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Jäger

Jäger

Titel: Jäger
Autoren: Greg Bear
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verdient habe.«
    »Dr. Golochow hat das Schiff vor einer Woche verlassen«,
erwiderte Betty. Sie führte mich aus dem Tankraum in die
innersten Sphären des Hauptlabors, in große,
klinisch-nüchtern wirkende Räume mit Stahltischen und
-becken, Brutschränken, Sequenzierern und einer ganzen Phalanx
von Eiweißanalysegeräten, die an Verbindungsaggregate
angeschlossen waren. All diese Räume waren verlassen, doch in
einer Ecke entdeckte ich zahlreiche nicht ausgepackte Kisten,
Kunststoffkästen mit DVD-Scheiben, Zeitschriften und Kartons
voller Lehrbücher und Nachschlagewerke.
    »Ich weiß nicht, wie viel Sie wissen«, sagte Shun.
»Ich selbst bin eben erst angekommen.«
    »Ich weiß alles«, erwiderte ich und fühlte,
wie mir die Kehle eng wurde.
    »Ach ja?«, sagte sie. »Viele der anderen haben das
Schiff ebenfalls verlassen. Dr. Goncourt hat eine Menge von ihnen
beurlaubt, als Irina in New York starb. Es gibt jetzt keinen Grund
mehr, allzu wachsam zu sein.«
    »Mit Irina meinen Sie die Golochowa?«
    Betty nickte.
    »Ich kannte ihren Vornamen nicht.«
    Betty Shun lächelte. Ich hatte gelogen: Es gab viele Dinge,
die ich nicht wusste. »Dr. Goncourt hat seit längerem
geplant, sich zurückzuziehen und seine Arbeit anderen zu
überlassen. Kontinuität ist äußerst
wichtig.«
    »Wo ist er?«
    »Dr. Goncourt?«
    »Golochow.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Er benutzt diesen Namen nicht
mehr. Er erinnert ihn an schlimme Zeiten.«
    »Er hat sich tapfer geschlagen, nicht wahr?«
    »Das sollten Sie selber am besten wissen.«
    »Wer hat gewonnen?«
    »Sie natürlich, Dr. Cousins.«
    »Natürlich. Wer sind diese siamesischen
Zwillinge?«
    »Sie sind Zuhörer. Sie waren Dr. Goncourts Hauptanliegen
bei den Verhandlungen.«
    »Verhandlungen? Sie nennen all diesen Irrsinn Verhandlungen?«
    »Jetzt werden sie bleiben und ihre Arbeit fortsetzen. Auch
der Zirkus wird weiterexistieren.«
    »Wem oder was hören sie zu?«
    »Den Stimmen der Kleinen Mütter – zumindest hat man
uns das gesagt. Aber die Kleinen Mütter sprechen langsam. Dr.
Goncourt hat auf dem Gebiet der Lebensverlängerung geforscht,
damit er lange genug lebt, um zu verstehen, was sie sagen.« Sie
warf mir einen traurigen Blick zu, als wollte sie hinzufügen: Und schauen Sie, wozu es geführt hat.
    »Sie hören Bakterien zu?«
    Betty Shun zog eine Augenbraue hoch. »Tun wir das in gewisser
Weise nicht alle? Das war es doch, was Sie Owen erzählt haben,
oder?«
    •
    Draußen auf dem schwarzen Ozean näherten sich von allen
Seiten Rettungsboote, Fischkutter, Yachten, Kutter der
Küstenwache, Schleppdampfer und sogar ein riesiges
Containerschiff. Alle hatten Deckbeleuchtung und Suchscheinwerfer
eingeschaltet, in deren Licht sich der riesige Schiffsrumpf der Lemuria deutlich in der Morgendämmerung abzeichnete.
    Betty Shun ließ mich im Wartesaal des
Hubschrauberlandeplatzes auf dem obersten Deck des Aristos-Turms
zurück, bewacht von zwei kräftigen, großen jungen
Männern in grauen Pullovern. Beide waren höflich, sagten
jedoch wenig. Als sie zurückkam, nahm sie mich beiseite und
flüsterte: »Sie verlassen uns jetzt.«
    »Was ist mit den anderen?«
    »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
    »Was ist mit Ben Bridger?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht bringen die Schiffe
sie alle weg. Sie selbst fliegen mit dem Hubschrauber.«
    »Wo fliege ich hin?«
    »Sie werden Dr. Goncourt kennen lernen. Das ist eine Ehre,
finden Sie nicht?«
    •
    Ich blickte aus dem Seitenfenster des kleinen Privathubschraubers,
während er vom Flugdeck der Lemuria abhob. Die beiden
jungen Männer in Grau begleiteten mich. Ich ließ Delbarco,
Breaker, Ben, Carson, Candle und all die anderen auf dem Schiff
zurück, tot oder lebendig – wahrscheinlich tot.
    Ich war mir sicher, dass man mich irgendwo hinbrachte, wo auch ich
den Tod finden würde. Mein einziger Trost war, dass ich den
bedeutendsten Mann des zwanzigsten Jahrhunderts kennen lernen
würde. Den wahren Mörder meines Bruders.
    Ich würde Gelegenheit haben, ihm ein paar Fragen zu stellen,
und vielleicht – falls er so freundlich war und ich Glück
hatte – auch ein paar Antworten erhalten.
    Ein Teil von mir empfand es als Verrat an all meinen früheren
Prinzipien, dass ich weder Zeter und Mordio schrie, noch mich mit
Zehen und Klauen an jede Sekunde des Lebens klammerte, aber ein weit
größerer Teil meines Ichs hatte sich fest im Griff und war
völlig ruhig.
    Und neugierig. Nicht einmal das Fliegen machte mir
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