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Jäger

Jäger

Titel: Jäger
Autoren: Greg Bear
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»Du kannst direkt zu ihm gehen,
durchs Wasser. Die Wellen sind nicht hoch. Du hast allerdings nur ein
paar Minuten. Er wird schnell müde und wir fliegen bald zum
Festland. Wir bleiben während des Sturms nicht hier.«
    »Ihr verzieht euch in ein anderes Domizil? Zu weiteren
verborgenen Reichtümern?«
    Lissa zuckte nur mit den Achseln.
    Am liebsten hätte ich die Arme ausgestreckt und sie
erwürgt oder auch nur ihr Gesicht berührt, um zu sehen, ob
sie ein Phantom war. Ich konnte mir nicht sicher sein, dass alles,
was ich wahrnahm, real war.
    »Warum bin ich hier?«, fragte ich sie.
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie. »Aber tu
nichts Unbesonnenes.« Sie hob den Arm, streckte ihn nach hinten
und deutete zu den Bäumen neben dem Haus hinüber. Ich
drehte mich um und sah dort vier Männer in grauen Anzügen
stehen. Drei der Männer waren jung und athletisch. Der vierte
Mann war wesentlich älter, bestimmt schon in den Siebzigern. Er
trug ein Hawaii-Hemd und eine weite Drillichhose. Es war der Mann,
den Ben vor der Anthrax-Zentrale so unverwandt angestarrt hatte.
    Stuart Garvey.
    Ich wandte mich ab, weil mir der Gedanke unangenehm war, dass
Lissa mich so verdutzt sehen könnte, und stakste vom Strand
über den harten nassen Sand ins blaue Wasser. Stromatoliten sind
kein besonders schöner Anblick. Es sind lediglich
verkümmerte Wälder kleiner brauner, von Sand umgebener
Strünke im Wasser. Zehn, zwölf Meter vom Ufer entfernt
ragten die braunen Struwwelköpfe aus dem von sanften Wellen
bewegten Wasser, dahinter waren sie nur noch als dunkle Schatten
unter der Oberfläche auszumachen.
    Ein hagerer alter Mann mit einem Schopf schlohweißen Haars
kniete im Wasser. Um die Schulter hatte er einen Beutel aus Segeltuch
geschlungen. Er sah auf, als ich näher watete. Sein Gesicht war
bleich und von tiefen Falten durchzogen, doch seine Augen blickten
klar. Offenbar hatte das Leiden, das Irina Golochowa heimgesucht
hatte, ihn selbst verschont. Er wirkte tatsächlich wie ein
alter, wenn auch rüstiger Mann von mehr als hundert Jahren. Die
runzligen, von Altersflecken übersäten, ansonsten jedoch
völlig normalen Hände streichelten über den feuchten
Kopf eines Stromatoliten. An seinen Fingern klebten Algen.
    Er blickte erneut auf. »Hallo«, begrüßte er
mich. »Sind Sie ein Student der biologischen Geheimnisse? Kennen
Sie sich mit diesen Wundern aus?«
    »Dr. Golochow?«
    Er fasste mich kritischer ins Auge. »Goncourt, bitte.
Golochow hätte schon vor Jahrzehnten sterben sollen.«
    »Mein Name ist Hal Cousins. Sie haben meinen Bruder
umgebracht«, sagte ich.
    »Habe ich das?« Er verzog bedauernd das Gesicht.
»Das tut mir wirklich Leid. Ich hoffe, Sie vergeben
mir.«
    Seine Reaktion ließ mir nicht nur das Blut ins Gesicht
schießen, sie überraschte mich auch. »Sie haben auch
mich um ein Haar umgebracht.«
    »Wie gut, dass es mir nicht gelungen ist«, sagte er mit
falscher Galanterie.
    »Erzählen Sie mir nicht, dass Krieg herrschte. Es war
niederträchtige Dummheit.«
    »Vielleicht war es das«, erwiderte er. »Von Angst
hervorgerufen. Von unvorstellbar großer Angst. Sie sind einer
von den kleinen menschlichen Tumoren, nicht wahr? Sie und Ihr Bruder.
Sie wollten beide ewig leben.«
    »Das will ich noch immer.«
    »Die Kleinen Mütter wachen über uns alle«,
sagte der alte Mann und wischte sich die Hände an der Hose ab,
wo sie dunkle Flecken hinterließen. »Wenn Sie die
Verbindungen zwischen dem Körper und den Diensten der Kleinen
Mütter kappen, unterbrechen Sie weit mehr als nur den Pfad zu
hohem Alter. Haben Sie sich je fit und eins mit sich und der Welt
gefühlt? Das Leben als schön empfunden? Vielleicht kennen
Sie das mystische Gefühl, mit der Natur verbunden zu sein, mit
etwas Höherem? Das ist die Stimme der Kleinen Mütter. Alle
Belastungen und Belohnungen des Lebens befinden sich dann im
Gleichgewicht; Ihnen geht es dabei gut – und die Kleinen
Mütter billigen es. Dagegen schmerzt es, wenn man gewogen und
für zu leicht befunden wird – auch das passiert. Aber wenn
sie diese Stimmen zum Schweigen bringen, verlieren Sie schnell jedes
Gleichgewicht. Wir sind weit mehr als in Knochen eingebettete
Gehirne. Größere und ältere Bewusstseinsformen leben
in unseren Körpern und überall um uns herum, die in
Sprachen reden, die ich mein ganzes Leben lang zu verstehen versucht
habe.« Er ließ die Finger spielerisch durchs Wasser
gleiten. »Vielleicht sind wir nur ein Traum, den die
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