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Jäger der Nacht

Jäger der Nacht

Titel: Jäger der Nacht
Autoren: Wallace Hamilton
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Pfund, und er wußte, daß ihn niemand als Mann akzeptieren würde. Er war neidisch auf die Männer, die sich kraftvoll und selbstsicher bewegten. Kevin war sich nie ganz sicher, daß seine Arme und Beine auch tatsächlich seinen Befehlen gehorchten, und er neigte dazu, über alles Mögliche zu stolpern und die Gläser auf dem Tisch umzuwerfen. Er malte sich aus, wie er ein Glas Bier auf dem Tresen umstoßen würde, und sein Magen drehte sich um.
    Weiter unten in der Hafenstraße fiel ihm ein Mann auf, der in einem parkenden Wagen saß. Der Typ ließ ihn nicht aus den Augen, als Kevin näher kam. Kevin versuchte, sich ganz beiläufig zu bewegen, fühlte sich aber unter dem prüfenden Blick wie nackt. Als er in einem Abstand von ein, zwei Metern am Auto vorbeiging, hörte er das Klicken eines Türschlosses, sah, wie der Mann sich über den Beifahrersitz beugte und die Tür einige Zentimeter geöffnet hielt. Kevin blieb sekundenlang stehen – er hörte die warnende Stimme von Mrs. Crimmins: «Steig niemals zu einem Fremden ins Auto» – und ging dann wieder weiter. Aber er hielt seinen Kopf höher und seine Schultern gerader, als er sich fortbewegte. Er fühlte – ohne genau zu wissen warum –, daß er begehrt war.
    Er wußte, daß es in der Welt Männer gab, die andere Männer mochten, und manchmal Kinder in seinem Alter. Einer der Lehrer, die er in Laureldale gehabt hatte, war – hinter dessen Rücken – als ‹Fräulein Dingsda› bekannt. Wenn man um die Note in seinem Matheunterricht besorgt war, konnte es nicht schaden, ein bißchen zu flirten. Warum auch nicht, die Mädchen machten dasselbe mit den Lehrern. ‹Fräulein Dingsda› gab den Jungs eine Chance. Aber ‹Fräulein Dingsda› war zart und schüchtern. Die Männer unten bei den Lagerhäusern schwitzten Kraft aus wie ihren Schweiß. Das Animalische an ihnen erregte ihn.
    Er wunderte sich über sich selbst. Warum war er erregt? Er wußte, daß er nicht ‹Fräulein Dingsda› war, aber er war sich unsicher darüber, was er war. Er konnte lediglich eine wohlige Erregung verspüren, die sich durch seine Angst vor dem lauernden Unbekannten in ihm noch steigerte.
    Was hatte Dennis hier unten entdeckt? Was waren die geheimnisvollen Spiele, die er spielte? Er warf einen Blick in die Rowland Street und andere Seitenstraßen. Jenseits der Lagerhäuser war eine Flucht kleiner Reihenhäuser, die sich kaum von denen in der Burkett Street unterschieden, nur daß sie dreckiger und finsterer aussahen. Die Straßen waren übersät mit Papier, alten Kartons, alten Reifen, Mülleimern. Kinder jeden Alters spielten, laut und anhaltend streitend, Schlagball, oder sie standen kreischend und lärmend an Laternenpfählen und Hydranten rum. Auch einige Mütter kreischten – sie jagten hinter ihren Kindern her und landeten klatschende Schläge auf deren Hintern. Irgendwo da an diesem Durcheinander auf der Straße hatte Dennis seinen Anteil gehabt und alles das gelernt, was er wußte... die Dinge, von denen Kevin nun wußte, daß er sie nicht kannte.
     
    Weiter unten an der Straße fand sich Kevin genau gegenüber von einem Segelschiff wieder, das an seinem Ankerplatz entlang der Landungsbrücke dümpelte. Die Masten, Spanten und Wanten zeichneten sich scharf und filigran gegen den strahlenden Nachmittagshimmel ab. Der Bug, glatt wie ein Marlin, schien mit seinem Bugspriet genau auf Kevin zu zielen. Kevin fühlte sich angelockt.
    Seine Augen starr auf das Schiff gerichtet, ging Kevin über die breite Hafenstraße. Aus den Augenwinkeln warf er hin und wieder einen Blick auf den Gegenverkehr. Aber als er gerade zu den Eisenbahnschienen gekommen war, hörte er einen ohrenbetäubenden Pfeifton. Er blickte auf und sah eine Lokomotive. Der einzelne Scheinwerfer vornedran glotzte ihn an, groß wie ein Zyklopen‐Auge. Kevin sprang zurück. Die gewaltige Lok, die zwei Güterwagen zog, fuhr direkt an ihm vorbei. Hoch oben vom Lokführerstand sah ein Mann zu ihm runter: «Paß auf, wo du hintrittst, Kleiner!»
    Nachdem die Waggons vorbeigefahren waren, überquerte Kevin den Rest der Straße. Sein Puls jagte immer noch von dem Schreck. Dann stand er an der Wasserkante und starrte an dem Schiff hoch, dessen Bugspriet nun weit über seinem Kopf war. Der Name des Schiffes, mit großen, goldenen Buchstaben nahe am Bug aufgemalt, war Mirabelle.
    Er fragte sich, welche Meere wohl schon ihre Wellen gegen diesen Bug gerollt hätten. Er versuchte, sich das Schiff auf hoher See vorzustellen
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