Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Isenhart

Isenhart

Titel: Isenhart
Autoren: Holger Karsten Schmidt
Vom Netzwerk:
toten Säuglings zu sich heran, presste seine Lippen auf die des Kindes und atmete aus. Irmgard schluckte. Was, in Gottes Namen, spielte sich da ab?
    Ihre Tochter Therese huschte auf leisen Sohlen hinaus, ohne sich nach ihrer Mutter umzuschauen. Der Mann wiederholte die merkwürdige Prozedur, dann schrie der Säugling auf, und das Schreien wurde zu einem Wimmern. Irmgard glaubte, ein kurzes Lächeln über das Gesicht des Fremden gleiten zu sehen, der jetzt zu ihr trat.
    »Das ist Hexerei«, brachte Irmgard hervor. Um nichts in der Welt wollte sie bei diesem Mann und dem untoten Kind bleiben. Aber ihre Knie waren weich geworden. Sie fand sich unfähig, auch nur aufzustehen.
    »Er hat ein totes Kind zum Leben erweckt!«, rief draußen eine Frau, deren Stimme Irmgard ihrer Tochter zuordnete; Thereses Entsetzen war unüberhörbar. Vor der Hütte entstand Bewegung.
    Den Fremden kümmerte der Aufruhr nicht. Er ging vor Irmgard in die Hocke, sein Blick nahm sie gefangen. Er hielt ihr das schreiende Bündel entgegen. »Nimm es und säug es.«
    Irmgard wollte dem Mann nicht in die Augen schauen, sie warf einen Blick auf das Kind, dessen Gesichtshaut noch immer blau angelaufen war. Es war tot gewesen. Sie und ihre Tochter hatten esgesehen. Mehr noch: Sie hatten abwechselnd ihre Hand auf den Brustkorb des Säuglings gelegt und nichts von dieser kleinen, typischen Erschütterung gespürt, die das Herz üblicherweise verursachte.
    Jede Faser ihres Körpers sträubte sich, dieses Kind zu berühren. »Nein!«
    Alles, was sie an Abscheu empfand, hatte sie in ihre Stimme gelegt. Und jetzt gelang es Irmgard endlich, auf die Beine zu kommen. Doch die linke Hand des Fremden umschloss ihr Handgelenk und zwang sie mit der puren Kraft seines Griffes zurück aufs Lager. Eine knappe, gewaltvolle Geste, die ihre Angst verdoppelte.
    Immer noch hielt er ihr den kleinen Untoten entgegen, aber sein Blick war weich geworden.
    »Wer seid Ihr?«, brachte sie hervor, während ihre Augen in der Hoffnung auf Hilfe zum Eingang wanderten.
    »Ich war auf dem Weg zum Grab Christi«, erwiderte der Fremde mit brüchiger Ruhe, »Hunderte habe ich fallen sehen. Hunderte sind verdurstet oder verhungert. Meine Seele ist auf dem Sprung. Dem Kind habe ich einen Teil davon eingehaucht. Das ist der Grund, weshalb es lebt. Es trägt mich nun in sich. Nimm ihn jetzt.«
    Irmgard spürte das Bemühen des Fremden, sie zu beruhigen und dazu zu bewegen, den untoten Bastard von ihrer Brust trinken zu lassen.
    »Hier ist der Lohn für deine Dienste«, fügte der Fremde hinzu und warf ein paar Münzen vor das Lager.
    Es waren echte Pfennige, soweit Irmgard das im Halbdunkel beurteilen konnte.
    »Nimm ihn zu dir. Und … gib mir dein Wort.«
    Die Hebamme schüttelte den Kopf.
    Der Fremde legte ihr den Bastard ohne ein Wort auf den Schoß. »Du wirst ihn behüten. Ich komme wieder. Und wenn du nicht Wort gehalten hast«, er stand auf und beugte sich zu ihr hinab, »schneid ich dir den Kopf ab und verfüttere ihn an die Schweine.«
    Irmgard blickte in seine Augen. Der Fremde machte ihr nichts vor. Also nahm sie den untoten Säugling in die Arme, ihr blieb keine Wahl. Sobald der Mann weg war, konnte sie den Bastard ertränken. Oder ihn großziehen und verkaufen. Sie konnte es zum Vorteil wenden. Allein dieser Gedanke gab ihr die Kraft, dieses blutige Bündel mit dem blauen Kopf an sich zu pressen.
    Der Fremde ließ endlich den Blick von ihr, er reckte den Kopf so sehr, dass seine Halsmuskeln sich spannten und die Adern hervortraten.
    Dann hörte sie es auch: Hufe. Mehr als vier, Reiter näherten sich.
    Der Fremde schlüpfte aus der Hütte und verschwand. Die kleine Traube aus Frauen und Kindern starrte dem Mann, der sich in das Unterholz schlug, untätig nach, bis der Wald ihn ihren Blicken entzog.
    Vier Reiter sprengten heran. Drei von ihnen waren Soldritter mit Helmen und gefüttertem Wams. Sie trugen ihre Lanzen mit der scheinbaren Leichtigkeit jener, die täglich damit Umgang haben. Das Gesinde vor der Hütte wich zurück. Der vierte Reiter trug Schwert und Kettenhemd, er musste reich sein.
    Walther von Ascisberg war in einem Alter, in dem man sich nicht mehr ohne gewichtigen Grund auf Reisen begab. Sein Rücken und sein Gesäß schmerzten, kein Kraut war dagegen gewachsen. Von Ascisberg musste es wissen, er hatte sie alle probiert.
    »Wir suchen einen alten Mann«, sagte er mit dem rasselnden Atem, der der hörbare Tribut der letzten Tage war, »über vierzig Lenze.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher