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Isenhart

Isenhart

Titel: Isenhart
Autoren: Holger Karsten Schmidt
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nun von diesem unschuldigen Kind beherbergt, um sich vielleicht eines Tages wie ein wulstiges Geschwür Bahn zu brechen.
    Aber als er der Feinheit der Gesichtszüge, der filigranen Linien der Hände und Füße des Neugeborenen gewahr wurde, begriff von Ascisberg, was für einen unvorstellbaren Frevel er begangen hatte. In einem einzigen Moment seines ansonsten untadeligen Lebens hatte er sich in einem Augenblick der Raserei die ewige Verdammnis gesichert.
    Nein, er hatte kein Recht, dieses Leben zu vernichten, weil es sich irgendwann möglicherweise gegen ihn oder andere richten könnte. Aber diese Erkenntnis kam zu spät. Der Säugling war tot, und es gab nichts außer Gebeten, die er dieser Tatsache entgegenzusetzen vermochte.
    Nach der Schlacht von Doryläum, als sie vor über zwanzig Jahren auf ihrem Weg ins Heilige Land von den türkischen Seldschuken vernichtend geschlagen worden waren, hatte Walther von Ascisberg für ein halbes Dutzend Freunde und Verwandte, die den Hieben der Krummsäbel zum Opfer gefallen waren, unzählige Gebete gesprochen. Nicht einer von ihnen war ins Leben zurückgekehrt. Der Herrgott hatte in dieser Nacht sein Antlitz von ihnen abgewandt. Aus Scham, wie Walther vermutete.
    Gebete hatten bisher niemanden zurück ins Diesseits geholt. Aber wenn er der Hebamme Glauben schenken konnte, war das tote Kind nur durch einen Atemzug belebt worden, dadurch, dass es jemand mit einem Stück seiner Seele versorgt hatte.
    Lassen wir die Seelen in Widerstreit treten, dachte von Ascisberg, bevor er dem toten Kind seine Lippen auf den Mund presste und ihm etwas von seiner Seele einhauchte.
    Er setzte den Mund ab und starrte gespannt auf das Kind.
    Durch dessen Körper ging ein einziger Ruck. Dann brüllte der Säugling, und von Ascisberg lächelte erschrocken – wie war das möglich?
    Irmgard, die Hebamme, sollte all die Beteiligten niemals wiedersehen. Im nächsten Winter stürzte sie, brach sich den Knöchel und erfror.

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2.

    igimund von Laurin war es gewohnt, von der oberen Wehrmauer, an der er stand, die Umrisse des Ascisbergs zu sehen, der sich weithin sichtbar dem Himmel entgegenreckte, aber dichtes Schneetreiben versagte ihm diesmal den Anblick. Der Wind pfiff über das Gestein, es war kalt.
    Er presste das doppelte Kuhfell an sich und warf einen Blick hinab in den Burghof, wo Ruprecht sich anschickte, zwei Gruben ins Erdreich zu treiben, bevor der Frost ihm einen Strich durch die Rechnung machen konnte.
    Sigimund schaute an Walther von Ascisberg vorbei zu dem dürren Barbier, der dem Hause Laurin auch als Medicus zu Diensten war. Im Augenblick untersuchte er im Schutz des Turmaufgangs das Neugeborene, das sein alter Weggefährte mitgebracht hatte.
    »Es war tot«, sagte Sigimund ohne Umschweife, wie es seine Art war.
    Walther von Ascisberg konnte sein Erstaunen nicht verbergen. »Woher weißt du das?«
    Ein Lächeln zog über Sigimunds Gesicht und war so schnell wieder verschwunden, dass es von Ascisberg schwerfiel zu bestimmen, ob er es überhaupt gesehen hatte.
    »Das Gesinde«, erwiderte der Burgherr, »ist immer noch der verlässlichste Kurier.« Er schritt ein wenig an der Wehrmauer entlang und sah hinab zu der Quelle des metallischen Geräusches, das klar und nüchtern durch den Schnee drang. Der Pinkepank ließ den Hammer auf ein Hufeisen fahren. Wieder und wieder, unermüdlich. »Ein Untoter, der ein Stück seiner Seele in sich trägt. Ich sollte das Bündel nehmen und es über die Mauern werfen.«
    »Er ist jetzt auch für ein Stück meiner Seele Unterschlupf«, erwiderte von Ascisberg. Ihre Blicke begegneten sich, während dieSchneeflocken zwischen ihnen die Strömungen des Windes markierten.
    »Lebt er?«, fragte von Laurin unvermittelt.
    »Er hat zwei Soldritter erschlagen. Ich nehme es an, ja.«
    Sigimund von Laurin war nicht verwundert über die Antwort. Er beobachtete Walther von Ascisberg, eine dürre Gestalt im Kettenhemd, die so verletzlich wirkte, dass er den Reflex verspürte, ihn vor den Kamin zu setzen – aber er widerstand dem Impuls, weil er wusste, aus welchem Stoff sein Freund gemacht war.
    »Warum sollte ich das tun – den Knaben aufnehmen?«
    »Deus vult«, erwiderte Walther von Ascisberg.
    Sigimund von Laurin wusste nicht, ob er verärgert oder froh sein sollte, diese Worte zu hören.
    Deus vult war die Parole der Katholischen Kirche, mit der sie Abertausende ins Heilige Land entsandt hatte, um das Grab des Herrn vor den Ungläubigen zu sichern, wie er
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