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Isau, Ralf

Isau, Ralf

Titel: Isau, Ralf
Autoren: Gerry
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Schreibtischkante der jungen Dame fest. Alles drehte sich um ihn.
    »Trinken Sie noch einen Schluck Wasser, Herr Koreander.«
    Karl gehorchte. Wie vom Wind getrieben, flog das farbige Laub seiner Erinnerungen an seinem geistigen Auge vorüber. Auf einem Blatt – wie lange war das her? – fand er Thaddäus' mit Geheimtinte geschriebenen Brief. Da war von einer »inneren Zeit« die Rede gewesen, die der Meisterbibliothekar in Phantásien nach Kräften dehnte. Ein Jahr für einen Tag ist kein Pappenstiel Karl nahm einen weiteren Schluck. Andere Erinnerungsblätter taumelten vorüber. Wie oft hatte er sich in Phantásien gewünscht, mehr Zeit zu haben? Aus einem Tag ein Jahr zu machen? Offenbar war es ihm gelungen. Und dann die weiten Reisen in scheinbar so kurzer Zeit! Karl trank hastig das Glas aus.
    Da öffnete sich die Tür des Büros, und ein Mann trat heraus, den Karl bereits kannte – nur in einer sieben Jahre jüngeren Version. Das braune Haar war grau geworden, der Schmerbauch größer, aber die marineblaue Jacke mit den Messingknöpfen und die gestreifte Krawatte trug er immer noch. Oder hatte er sich schon frühzeitig mit einem größeren Vorrat eingedeckt?
    »Ich gehe jetzt zu Tisch, Fräulein Hasenfratz. Sollten ...« Doktor Windig verstummte, weil ihm offenbar erst jetzt der heruntergekommene Besucher auffiel. Erstaunlicherweise blieb der Notar höflich. »Guten Tag. Wird Ihnen schon geholfen?«
    Karl lächelte schwach. »Ich bin eigentlich zu Ihnen gekommen, Herr Doktor Windig.«
    »Hatten wir denn einen Termin?«
    »Ja, am 15. November 1938, um elf Uhr achtundfünfzig.«
    Mit einem Mal schienen die Augen des Notars zu wachsen. »Herr ... Warten Sie, der Name fällt mir gleich wieder ein ...«
    Fräulein Hasenfratz holte Luft. »Es ist Herr ...«
    Doktor Windig riss die Hand hoch. »Nichts verraten! Ich will wissen, ob mein Gedächtnis immer noch so gut ist wie früher ... Koreander! Ja, das war der Name. Mein Gott! Sie sind der Gehilfe vom alten Thaddäus T. Trutz, der vor sieben Jahren verschollen ist.«
    »Verschollen? Nun, ich würde eher sagen, er ist...« Zu Hallúzina ins Haus der Erwartungen gezogen. »... verschollen.«
    »Sage ich doch. Aber Sie waren genauso lange von der Bildfläche verschwunden. Ich habe den Laden verrammeln lassen, und wie durch ein Wunder hat er den Krieg überstanden. Alle Häuser ringsum sind zerbombt worden, aber ...«
    »Krieg?«, entfuhr es Karl.
    Doktor Windig hob zu einer Erwiderung an, doch plötzlich stutzte er. Zuerst spiegelte sich Verwunderung auf seinem Gesicht, aber dann reagierte er auf eine mitleidvolle Weise, die eher im Umgang mit verwirrten alten Leuten angemessen schien. Er nickte mit tragischer Miene und sagte voll Anteilnahme: »Die schlimmsten tausend Jahre, die man sich vorstellen kann. Anscheinend haben sie auch Ihnen arg zugesetzt ...«
    »Tausend!« Karl japste. »Aber Sie hatten doch eben gesagt, es wären nur sieben ...«
    »Das war eher symbolisch gemeint. Aber kommen Sie doch erst einmal in mein Büro. Möchten Sie einen Kaffee? Wir haben allerdings nur den aus Malz.«
    »Ja, gerne.«
    Der Notar gab entsprechende Anweisung an seine Vorzimmerdame und bat sie außerdem, die Akte »Thaddäus T. Trutz« aus dem Archiv zu holen. Danach führte er Karl in sein Büro.
    Wenigstens hier hatte sich kaum etwas verändert. Dem Anschein nach sank Karl sogar in denselben Sessel ohne Seitenlehnen, in dem er schon vor sieben Jahren gehofft und gebangt hatte.
    »Wo sind Sie nur so lange gewesen?«, fragte Doktor Windig. Er beugte sich vor und lehnte die Unterarme auf seinen wuchtigen Schreibtisch. Wieder hatte seine Stimme diesen säuselnden Klang, als spräche er mit einem verkalkten Greis.
    »Wenn ich Ihnen das erzählen würde, Sie würden es nicht glauben.«
    Der Notar nickte verständnisvoll. »Die letzten Jahre waren für alle ein Albtraum.« Er berichtete von einigen unglaublichen Ereignissen, die Karls Nackenhaare in die Höhe trieben. Er hatte gedacht, derartige Dinge könnte es in der Wirklichkeit nicht geben. »Jetzt erinnere ich mich wieder genau an Ihre unangenehme Situation damals, als wir hier saßen und nach einer Lösung suchten. Ist es Ihnen inzwischen gelungen, Herrn Trutz zu finden?«
    »Ja.«
    »Und sind Sie jetzt im Besitz der Legitimation?«
    »Spielt denn das noch eine Rolle? Ich komme ja sieben Jahre zu spät.«
    »Ich wundere mich, wie Sie wieder auf Zack sind, nachdem Sie doch anscheinend die vergangenen sieben Jahre ...«
    ... in
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