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Isau, Ralf

Isau, Ralf

Titel: Isau, Ralf
Autoren: Gerry
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Backsteinmauer auf der anderen Straßenseite wahrgenommen. Jetzt trat er weiter auf den Gehweg hinaus, drehte sich um – und bekam einen Schock.
    Die Häuser zu beiden Seiten des Ladens waren nur noch Ruinen. Fassungslos drehte er sich nach rechts. Bis zum Ende der Straße nur Trümmer. Auch die Mauer gegenüber war auf weiten Strecken zerstört.
    Karl begann zu laufen. Sein Ziel war das Büro von Doktor Harribald Windig. Hinkend rannte er gegen den Minutenzeiger an, aber diesmal gab er ihm nicht die Schuld. Ungläubig nahm er unterwegs die allgegenwärtigen Zerstörungen wahr. Viele Gebäude existierten einfach nicht mehr. Manchmal ragten einzelne, wie durch ein Wunder so gut wie unversehrt geblieben, aus einem Meer von Ruinen auf. Ob es auch in ihnen Türen nach Phantásien gab, die von unsichtbaren Hermetiden bewacht worden waren? Karl entdeckte auch neuere Häuser, die er nie zuvor gesehen hatte. Auf der Straße begegnete er ungewöhnlich vielen Frauen, aber kaum Männern, abgesehen von ein paar Jungen und Greisen. Was hatte sich hier ereignet? Ein Erdbeben vielleicht?
    Endlich erreichte er die Kanzlei. Erleichtert atmete er auf. Das Haus hatte die offenbar ziemlich stürmische Woche überstanden. Die Fassade war zwar von unzähligen kleinen Kratern übersät, aber sonst sah es recht passabel aus. Karl stürmte die Treppe zum Hochparterre hinauf. Abermals kontrollierte er die Zeit. Noch elf Minuten. Er klingelte an der Kanzleitür. Eine junge Dame öffnete ihm. Vielleicht war Fräulein Schmitz krank.
    »Ich muss dringend den Notar Doktor Windig sprechen.«
    Die junge Dame blickte an Karl hinab. Unwillkürlich folgte er ihrem Beispiel und erschrak. Er sah zum Fürchten aus. Wie ein Landstreicher. Seine Hose war verschmutzt, die Schuhe fast ohne Farbe. Und erst der Mantel! Da gab es weiße Flecken vom Gewölbe unter dem Schieferberg am Ärmel und schwarze vom Lux. Die Außentaschen waren wie Säcke ausgebeult. Rasch schälte er sich aus dem peinlichen Kleidungsstück heraus, rollte es zusammen und klemmte es sich unter den Arm. Sein Jackett sah nicht ganz so mitgenommen aus.
    »Haben Sie einen Termin?«, fragte die junge Dame streng.
    »Ja.«
    »Name?«
    »Bei Herrn Doktor Windig.«
    Die junge Dame täuschte ein Lächeln vor. »Wie mein Chef heißt, weiß ich. Ihren Namen hätte ich gerne.«
    »Ach so. Koreander. Karl Konrad Koreander.«
    »Für welche Uhrzeit sind Sie verabredet.«
    »Elf Uhr achtundfünfzig.«
    »Sie scherzen schon wieder. Normalerweise speist Herr Doktor Windig um zwölf. Ich könnte mich erinnern, wenn ich einen so ausgefallenen Termin für ihn vereinbart hätte.«
    »Das waren ja auch nicht Sie. Fragen Sie Fräulein Schmitz. Die kann es Ihnen bestätigen.«
    Jetzt wurde die junge Dame blass. Ihr Gesicht wirkte betroffen. Dann verärgert. »Was erlauben Sie sich! Fräulein Schmitz arbeitet schon seit fünf Jahren nicht mehr hier.«
    »Das muss ein Irrtum sein. Ich habe noch vor einer Woche mit ihr gesprochen.«
    »Fräulein Schmitz ist seit zwei Jahren tot.«
    »Was?« Karl schwankte. Das darf alles nicht wahr sein!
    »Ist Ihnen nicht gut?« Die junge Dame war jetzt doch ein wenig besorgt.
    »Nein«, gestand Karl.
    »Möchten Sie einen Schluck Wasser?«
    »Ja, bitte! Und wenn ich mich einen Moment setzen dürfte. Ich habe viel durchgemacht in den letzten sieben ...« Tagen?
    Die junge Dame war im Grunde gar nicht so unfreundlich, wie sie sich anfangs gebärdet hatte. In letzter Zeit gab es – was Karl noch nicht wusste – viele Entwurzelte und Obdachlose, die auf das Mitleid anderer angewiesen waren. Er sah wie einer von ihnen aus. Kein Wunder, wenn sein abgerissenes Äußeres den Argwohn der Sekretärin weckte. Nachdem er ein halbes Glas Wasser getrunken hatte und wieder etwas Farbe in sein Gesicht zurückgekehrt war, fragte sie: »Wie lautet das Datum?«
    »Bitte?«
    »Wann genau haben Sie den Termin, mit Doktor Windig?«
    »Spätestens am ...» – Dienstag, 8. November 1938, 11.58 Uhr plus 7 Tage – »... genau heute, um elf Uhr achtundfünfzig.«
    »Spätestens?«
    »Es darf auch ein paar Minuten früher sein.«
    Die junge Dame sah auf ihre Armbanduhr. »Wenn Sie mit ›genau heute‹ tatsächlich den heutigen Tag meinen, dann haben Sie noch eine Minute. Welches Jahr?«
    »Wie bitte?«
    »In welchem Jahr hatten Sie Ihren Termin?«
    »Na, 1938, wann denn sonst?«
    »Wie wär's mit 1945? Das Jahr, in dem wir beide leben?«
    »Ach du liebes bisschen!« Karl hielt sich an der
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