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Isau, Ralf - Neschan 03

Titel: Isau, Ralf - Neschan 03
Autoren: Lied der Befreiung Neschans Das
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Vielleicht hatte er sich nur etwas vorgemacht. Und überhaupt schien dies nicht sein Tag zu sein. Bithyas Auftritt war nämlich nicht das erste unangenehme Erlebnis seit Sonnenaufgang. Er beschloss das Wortgefecht zu beenden, indem er auf ein anderes Thema ablenkte.
    »Du bist bestimmt nicht zu mir gekommen, um meine Ausbildung zum Richter voranzutreiben, oder?«
    Das Manöver zeigte Wirkung. Bithya senkte den Blick und sagte nun erstaunlich leise: »Ich bin gekommen, weil Goel mich darum gebeten hat.«
    »Goel? Aber der Unterricht geht heute doch erst nach dem Mittagessen los.«
    »Es handelt sich auch nicht darum…« Bithya stockte. Ihre Unterlippe begann zu zittern.
    Yonathan spürte auch ohne die einfühlende Kraft des Stabes Haschevet, dass etwas in der Luft lag. Bithya machte sich Sorgen. Aber warum?
    In sanftem Ton fragte er: »Was kann denn so dringend sein, dass es nicht bis Mittag Zeit hat?«
    »Er will dich fortschicken.«
    Yonathan schluckte. »Hat er dir das gesagt?«
    »Nein.« Bithyas Unterlippe bebte stärker. Auch ihre Augen begannen feucht zu glänzen.
    »Aber woher willst du dann wissen…?«
    »Eine Frau spürt so etwas!«, fiel sie ihm trotzig ins Wort. »Aber was erzähle ich dir das? Du bist ja ein Mann. Was bei euch nicht logisch ist, das darf es auch nicht geben.«
    Yonathan hätte darauf gerne noch etwas erwidert. Aber Bithya gab ihm keine Gelegenheit dazu. Sie wirbelte auf der Stelle herum und stapfte samt Gurgi nach Hause zurück, hinter ihr eine flatternde Mähne aus schwarz gelocktem Haar.
    Yonathan folgte ihr langsam. Er musste nachdenken. Warum war Bithya so aufgewühlt? Selbst wenn ihn Goel wieder einmal nach Ganor schicken würde, um dem Rat der Charosim einige Anweisungen zu überbringen, war das doch kein Grund sich derart aufzuführen!
    Nein, die Ursache für Bithyas Erregung musste anderer Natur sein. Yonathan ahnte schon seit einigen Stunden, dass etwas nicht stimmte. Bei Sonnenaufgang war er erwacht, völlig durcheinander. Er hatte einen Traum gehabt. Nicht einen jener Träume, die ihn während all der Jahre begleitet hatten, als er noch als gelähmter Knabe auf der Erde lebte. In den Nächten war er damals immer der gesunde und aufgeweckte Junge von Neschan gewesen. Bis er sich hatte entscheiden müssen zwischen den beiden Welten. So hatte er schließlich das Amt des siebten Richters auf Neschan angenommen – und die Erde für immer verlassen.
    Seit dieser Zeit erging es ihm wie jedem anderen Menschen auch: Manchmal träumte er Schönes, manchmal Verwirrendes und gelegentlich Unangenehmes. Nur die Erinnerung, die von Haschevet verliehene Gabe des vollkommenen Gedächtnisses, sorgte dafür, dass er beim Erwachen stets noch ganz genau wusste, was er geträumt hatte.
    Aber an diesem Morgen war alles anders gewesen. Sosehr sich Yonathan auch bemühte, es gelang ihm nicht sich den Inhalt des Traumes ins Bewusstsein zu rufen. Verwirrt hatte er sich aus dem Haus geschlichen und war hinausgegangen zum See der Reinheit; er suchte diesen Ort oft auf, wenn er ungestört sein wollte. Als die Sonne längst weit über dem Horizont stand, hatte er noch immer keine Lösung für sein Problem gefunden. Und dann war er auf die Idee mit der Kuh gekommen.
    Auf dem Heimweg ging Yonathan nun entgegen der Strömung an dem kleinen Bach entlang, dessen sprudelndes Wasser am Haus der Richter vorbeifloss, um sich später in den See der Reinheit zu ergießen. Gerade als er eine knorrige alte Trauerweide passierte, überkam ihn ein vertrautes und dennoch beunruhigendes Gefühl. Von einem leichten Schwindel gepackt suchte er Halt am rauen Stamm des Baumes. Dabei fiel sein Blick auf eine Verdickung der Rinde, die wie ein Männerkopf aussah. Nein, es war ein Kopf, genauer gesagt: ein Gesicht, das ihn freundlich anlächelte.
    Yonathan war mittlerweile mit diesen Erscheinungen vertraut. Beim ersten Mal, als ihn ein solches Gesicht aus seiner Suppenschale heraus angeschaut hatte, war er aufgesprungen, hatte den Tellerinhalt verschüttet und einen ratlosen Goel zurückgelassen. Später, nachdem er sich wieder beruhigt hatte, erklärte ihm der alte Richter alles. Derartige Visionen seien für den Hüter des Gartens der Weisheit etwas ganz Normales. Da Gan Mischpad von einer übernatürlichen Nebelwand umgeben sei, könne nur derjenige eintreten, der das Einverständnis des Richters besitze. Und da Geschan – Goel pflegte Yonathan stets mit seinem offiziellen Namen anzusprechen – nun einmal dieses Amt
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