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Irrfahrt und Heimkehr des Odysseus

Irrfahrt und Heimkehr des Odysseus

Titel: Irrfahrt und Heimkehr des Odysseus
Autoren: Franz Fuehmann
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holen. Einmal muss es ja geschehen, dachte sie, und so stieg sie denn hinauf zum Söller, nahm den gewaltigen Bogen, einen Köcher und ein Dutzend Pfeile aus der edel steingeschmückten Truhe und trat damit vor die Freier hin, und die Schönheit Aphrodites und der Artemis, der göttlichen Schützerinnen der Liebe und der Jagd, vereinigte sich in ihrer edlen Gestalt und ihren hoheitsvollen Zügen.
    »Die Frist, die ihr mir gesetzt habt, ist abgelaufen«, sagte sie, »möge nun der Wettkampf euer Werben entscheiden! Eumaios, ramme zwölf Äxte, nach der Schnur gerichtet, hier ins Erdreich der Halle, und ihr Freier versammelt all eure Kräfte: Wem es gelingt, den Bogen zu spannen und den Pfeil durch alle zwölf Ösen zu schnellen, ohne dass er nur einmal das Metall streift, den will ich zum Gatten nehmen, und er soll Ithakas König sein!«
    Eumaios tat, wie ihm befohlen; die Freier aber schauten verängstigt auf den mannshohen Bogen, und sie zweifelten sehr, ob es ihnen gelänge, das fast armdicke Holz zum Schuss zusammenzukrümmen. Antinoos befahl darum dem Ziegenhirten Melantheus, eine Scheibe Stierfett zubeschaffen, um das Bogenholz einzureiben und über dem Feuer geschmeidig zu machen. Melantheus eilte, nach Antinoos’ Wunsch zu handeln; da er aber den Saal verließ, gingen auch der Sauhirt Eumaios und der Rin der hirt Philoitios auf den Hof. Als Odysseus sie hinausgehen sah, folgte er ihnen.
    »Ich will euch eine Frage stellen, getreue Hirten«, sprach er auf dem Hof zu ihnen, »wenn jetzt ein Gott den König Odysseus aus der Ferne hierher in die Heimat brächte und der König den Kampf mit den Freiern aufnähme, auf welche Seite würdet ihr euch stellen? Würdet ihr zum König halten oder zu den Eindringlingen? Dies beantwortet mir bitte freimütig, wie euer Herz es euch eingibt!«
    Sogleich antwortete der Rinderhirt. »Zeus weiß«, so sprach er, »dass ich jeden Tag die Rückkehr des Fürsten erflehe. Er sollte nur den Fuß auf die Insel setzen, dann könntest du, Alterchen, sehen, dass meine Treue zu ihm kein leeres Wort ist!« Dasselbe versicherte Eumaios, der Sauhirt. Da streifte Odysseus die Lumpen übers Knie und zeigte ihnen die fingerbreite, fast kreisförmige Narbe der Eberzahnwunde.
    »Glücklich preise ich mich, solch treue Freunde zu haben«, so sprach er, »und wenn mir ein Himmlischer gewährt, die ruchlosen Freier zu vertilgen, will ich euch edlen Männern ein Haus bauen und Land zum Eigentum geben und euch wie meine Brüder halten!«
    Er sprach dies und umarmte die Hirten, die auch ihn tränenden Auges in die Arme schlossen, dann fuhr er fort: »Freunde, es ist jetzt nicht Zeit, zu reden und uns dem Glück des Wiedersehens hinzugeben! Wir wollen wieder in den Saal zurückkehren; zuerst ich, dann, einzeln, ihr beiden, und dies ist mein Plan: Den Freiern wird es misslingen, sosehr sie sich auch mühen, den Bogen zu spannen; schließlich werde ich ihn zum Schluss begehren, und sie werden heftig dagegen sprechen und es nicht leiden wollen und ein großes Geschrei erheben, doch du, Eumaios, sollst dich nicht darum scheren und mir den Bogen bringen. Ist das getan, dann begib dich zu den Weibern und befiehl ihnen, alle Türen des Hinterhauses fest zu verriegeln und danach ihre Kammern aufzusuchen und drinnen bei der Arbeit zu verweilen, was immer auch in der Halle geschehen möge: Du aber, edler Philoitios, verriegelst die Hofpforte und bindest sie zur Sicherheitnoch mit einem starken Seil zu, dann wollen wir gemeinsam ans Werk der Befreiung gehen!«
    Er kehrte in den Saal zurück und setzte sich ans Ende der Tafel. Eurymachos tränkte gerade den Bogen mit flüssigem Stierfett und versuchte ihn dann zu spannen; sein Schultergelenk krachte, und die Kieferknochen sprangen aus dem Gesicht vor, so sehr strengte er seine Kräfte an, doch es gelang ihm nicht, den Bogen auch nur ein wenig zu krümmen. Schließlich setzte er ihn ab, und nach ihm versuchten sich Antinoos und andere Freier, und als es allen misslang, sprach Eurymachos: »Freunde, wir haben ja ganz vergessen, dass heute das Fest des bogenspannenden Apollon, des Himmlischen mit dem dunkelblauen Haar, gefeiert wird! Sicher verwehrt heute der Unsterbliche allen Erdenkindern, sein Handwerk zu treiben. Wir wollen drum den Wettkampf auf morgen verschieben; die Äxte können ja stehen bleiben, sie werden schon niemand stören! Den Bogen werde ich an mich nehmen, dass keiner ihn antaste; für heute aber lasst uns Gesänge hören und fröhlich
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