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Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss
Autoren: Markus Orths
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oder Tourettesyndrom oder krude narzisstische Störung oder was Ihnen sonst noch einfällt oder einfallen könnte, nein, ich hasse die Schubladen der Psychologie, ich hasse sie, ich will nicht in eine solche gesteckt werden. Egal. Ich verbrachte die nächsten Wochen in irrer innerer Anspannung, mit angehaltenem Atem, weil ich immer dachte, die Stimme könnte auftauchen, von irgendwoher, ich habe immer nur darauf gelauert, dass es geschehen könnte, und es geschah auch, immer dann, wenn ich es am wenigsten gebrauchen konnte, in Gesprächen mit Kunden zum Beispiel, wenn mich ein Kunde fragte, wo denn das Bücherregal zu platzieren sei, um den Effekt der größtmöglichen Praktikabilität mit den Effekten der größtmöglichen Unauffälligkeit oder Eleganz zu koppeln, und in diesen Augenblicken, mitten ins erwartungsvolle Schweigen des Kunden, hörte ich die Stimme, die mich fragte: Interessiert dich das? , und ich brach die Kundengespräche ab. Anfangs habe ich mich noch bei den Kunden entschuldigt und gesagt, mir sei nicht gut, aber sehr schnell habe ich in solchen Gesprächen nur den Kopf geschüttelt und bin einfach gegangen. Und dann klingelte zu Hause das Telefon, und eigentlich freue ich mich darauf wie auf nichts anderes, wenn mein Sohn anruft, das müssen Sie mir glauben, mit niemandem bin ich so sehr verbunden wie mit meinem Sohn, niemandem habe ich so viel Zeit und Geduld und Liebe geschenkt wie meinem Sohn, ich habe ihn nächtelang durch die Wohnung getragen, als er ein Baby war, in Froschhaltung an meine Brust gekauert, mit dem Daumen im Mund, den Geruch des Vaters eingesaugt hat er und Geborgenheit getankt, alles würde ich für meinen Sohn tun, ich fiebere dem Anruf meines Sohns wie nichts auf der Welt entgegen, um zu erfahren, wie es ihm geht. Aber an diesem Tag hörte ich meinen Sohn sprechen und mein Herz rührte sich nicht, ich hob ab, er sagte, Marc hier, ich sagte, hallo Marc, und er redete, aber ich starrte nur zur spärlich beleuchteten Wand, und auf der Wand zeichnete sich ein hässliches Gesicht ab, und ich dachte, das Gesicht passt zu dieser Stimme, die sich in mein Leben gestohlen hat, ich hörte gar nicht richtig auf das, was mein Sohn mir sagte. Es fiel das Wort Heimweh, und für gewöhnlich hätte ich sofort eine Chance gewittert, hätte ihm gesagt, komm zurück, mein Junge, wir haben immer einen Platz für dich, du kannst auch hier bei uns studieren, wir geben dir alles, was du brauchst, aber ich sah nur auf das Gesicht in der Wand, das der Stimme gehörte, und ich sagte meinem Jungen, da musst du durch. Er schwieg, überrascht, traurig über diese Worte, ich selber war genauso überrascht, aber in mir stahl sich eine klammheimliche Freude hoch, es war die Freude, einem Menschen wehzutun, den man liebt, ja, einem Menschen wehzutun, den man liebt, kann viel mehr Freude bereiten, als jemandem wehzutun, den man hasst, diese klammheimliche Freude, das ist ein perfides Gemisch aus Enttäuschungssucht, Liebessattheit und vorauseilender Reue, aus Bindungsüberdruss und Freiheitsdrang, aber ich kannte das Gefühl nicht, bis zu dem Moment, da ich meinem Sohn sagte, da musst du durch, und dann sagte ich nichts mehr, und er auch nicht, wir schwiegen uns an über Tausende von Kilometern, ich starrte auf die stumme Stimme in der Wand, und mein Sohn starrte wohl auf das Telefon vor ihm oder aus dem Fenster auf das Schönheitsstudio, ihm werden Tränen in die Augen getreten sein, selber schuld, dachte ich, was springst du in East Melbourne herum, was machst du da?, ich sagte aber nichts, sagte nur noch, ich müsse zurück an die Arbeit, auf bald, sagte er, auf bald, sagte ich, hab euch lieb, sagte mein Sohn, und ciao, sagte ich, ciao, genau, nicht, hab dich auch lieb, nein, ciao, sagte ich, legte auf, und die Stimme sagte: Na also, geht doch. Nicht mehr, nicht weniger. Geht doch. Von diesem Augenblick an wurde ich immer aggressiver. Dieser Hass auf alles, was ich erreicht habe, dieser abgrundtiefe Hass, diese Klebrigkeit des Wohlbefindens, wir sind dazu verdammt, wir können es nicht aushalten, es fegt uns weg, das Glück als dehnbarer Zustand, ich habe es erlebt, früher oder später hört jeder diese Stimme, die ihm das Glück versalzt, so, wie ich die Stimme gehört habe. Ich weiß gar nicht mehr, was sie sagte, die Stimme, an diesem Abend, an dem ich meine Frau schlug, ich weiß nur noch, was meine Frau sagte, ganz genau, sie sagte: Bringst du mir bitte die Fernbedienung? Ich stand auf und hatte
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