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Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss
Autoren: Markus Orths
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Mann, der mir geholfen hatte, fragte, ob auch er die Stimme gehört hatte, doch er fragte zurück, welche Stimme?, und da wusste ich, dass die Stimme zwar von außen kam, aber nur für mich bestimmt war, nur für meine Ohren, ich saß da und schaute mich um und wartete darauf, dass die Stimme weiter zu mir sprach. Aber sie schwieg. Sie müssen sich noch einmal in meine Situation versetzen. Ich – glücklich, zufrieden, alles erreicht. Stehe dort, in Erwartung der frohen Zukunft. Und dann aus dem Nichts: die Stimme. Sie wollen jetzt sicher wissen, was genau sie mir sagte? Kein Problem. Der, der, der genaue Wortlaut? Ja? Die Stimme fragte mich: Und jetzt? Das war alles. Nicht mehr und nicht weniger. Aber ich wusste genau, was sie meinte: Und jetzt? , fragte sie. Sofort dachte ich, das kann nicht alles sein. Nur des Glücks wegen leben kann nicht alles sein. Es muss noch mehr geben. Der Passant nickte mir zu und ließ mich allein. Warum lässt er mich allein?, fragte ich mich. Allein, dachte ich plötzlich. Dieses Wort. Fühlte mich so allein und dachte an meinen Sohn, der in Australien lebt, mein Sohn, dachte ich, der ist so weit weg, da drüben, ganz allein, in einem Hochhaus in der Flinders Lane, East Melbourne, ich bin erst einmal dort gewesen, das ist in der Nähe der Treasury Gardens, keine sonderlich ruhige Gegend, man kann die Züge hören, aber in diesem Augenblick, da spürte ich, dass auch mein Sohn sich gerade allein fühlte, Marc heißt er. Und kennen Sie das? Wenn sie die Traurigkeit eines anderen Menschen spüren? Wenn sie fühlen, wie der andere Mensch leidet? Der geliebte Mensch? Eine bittere Traurigkeit. Ich dachte, vielleicht sitzt er einsam im Verge Restaurant nebenan oder schlendert ohne Interesse durch die Aboriginal Art Galleries, vielleicht steht er im Architext Bookshop, kaum zweihundert Meter entfernt, und denkt an mich, egal, in jedem Fall ist er allein. Aber diese Traurigkeit bekam mit einem Mal eine völlig neue Färbung, etwas wie, ich weiß nicht, Schadenfreude, nein, ich weiß nicht, Herr Mollenhaupt, mir fällt auf, dass Sie gar nicht so viel reden, wie ich dachte, vielleicht gibt er mir Ratschläge, dachte ich, aber wahrscheinlich ist das längst überholt in der Psychotherapie, aber etwas mehr Beteiligung Ihrerseits hätte ich mir schon gewünscht, oder liegt das daran, dass ich hier so ohne Punkt und Komma rede, das wird es sein, aber Sie wissen ja, dass ich eine Pause im Gespräch nicht aushalten kann aus den genannten Gründen, daher bitte ich Sie, dass Sie, falls Sie etwas zu sagen haben, mir einfach gnadenlos ins Wort fallen. Aber bitte, Herr Mollenhaupt, ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse, ich hasse es, wenn man alles in Schubladen sperrt. Ich brauche einen Psychologen, der in der Lage ist, frei von allem, was er je in seinem Leben gelernt hat, an den Menschen heranzugehen. Sehen Sie, ich kann mir vorstellen, Sie haben jahrelang studiert. Sie kennen sich aus. Sie wissen alles. Sie sind eine Koryphäe, Sie halten Vorträge, und da erwarte ich von Ihnen, dass Sie Ihr gesamtes Wissen einfach vergessen können. Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Psychologe nur helfen kann, wenn er in der Lage ist, alles zu vergessen, was er gelernt hat. Wenn er dem Menschen unvoreingenommen gegenübersitzt. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn ich hier rede, und während ich rede, rattert es schon in Ihrem Kopf wie in einem Spielautomaten, Sie denken, was könnte das sein, was könnte er haben, wie könnte ich ihm helfen, und all die abertausend Seiten Papier, die Sie in Ihrem Studium lesen mussten, rattern und rattern, bis es irgendwann klick macht, und dann bleiben drei Sterne stehen in Ihrem Gehirnspielautomaten, Sie sagen, ich hab’s, ich weiß, woran er krankt, ich hab die Diagnose, und wenn ich die Diagnose hab, dann steht auf der Rückseite der Diagnose schon die Therapieform, stellen Sie sich vor, das würde passieren, das wäre ja grauenhaft, aber ich bin mir sicher, das geschieht ständig, in Abertausenden von Praxen geschieht dies, tagaus, tagein, weil die Psychologen so gut ausgebildet sind, weil sie so viel wissen, und dabei geht es nur darum, von diesem Wissen abzusehen, das Wissen über Bord zu werfen, um ganz nah beim Menschen zu sein, der vor einem sitzt, und das ist sicher das Schwierigste, da zeigt sich der Meister, und deshalb bin ich zu Ihnen gekommen, weil ich mir das von Ihnen erhoffe, weil ich will, dass Sie nicht gleich eine Diagnose erstellen, Schizophrenie
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