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Inspektor Jury schläft außer Haus

Titel: Inspektor Jury schläft außer Haus
Autoren: Martha Grimes
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dann stehen. Wieder herrschte Totenstille. Vorsichtig holte er die elektrische Taschenlampe aus der Tasche seines Regenmantels; er stellte sie auf den Sims der Empore, knipste sie an und rannte die westliche Empore entlang, während Matchett einen weiteren Schuß abgab. Die Taschenlampe fiel um und schlug auf dem Boden des Kirchenschiffs auf.
    Beim Herauskramen seiner Taschenlampe waren Jury die Hustenbonbons in der Innentasche seines Mantels eingefallen. Wenn er nur das Zellophanpapier abreißen könnte, ohne seinen Standort zu verraten – in der andern Tasche befand sich nämlich die Schleuder des kleinen Jungen. Gott segne dich, James. Er löste ein klebriges Bonbon von dem Klumpen in der Packung, preßte es gegen den Gummi und zielte auf das nächste Fenster. Auf das Klirren erfolgte dann auch gleich der nächste Schuß. Er versuchte, Matchetts Reflexe weiter zu reizen, indem er den Gummi schnell wieder anspannte und ein weiteres Hustenbonbongeschoß in das Kirchenschiff sandte. Er zielte in eine dunkle Nische und hörte ein Splittern; vielleicht hatte er die Gipsstatue der Heiligen Jungfrau getroffen. Jury betete so inbrünstig wie noch nie in seinem Leben.
    Aber statt eines Schusses hörte er, wie Matchett die Treppe zu der Lettnerempore hinunterrannte und in das Mittelschiff lief.
    Wieder war nichts zu vernehmen, bis dann plötzlich ein Lichtstrahl die Empore entlangwanderte. Jury duckte sich.
    «Ihre Täuschungsmanöver waren großartig, Inspektor», ertönte es von unten, «aber Sie machten den Fehler, Ihre Taschenlampe aufzugeben, und das war genau so dumm, wie daß ich keine mitgebracht habe. Da Sie offensichtlich keine Kanone besitzen, während ich meine in der Hand halte, sollten Sie sich vielleicht doch bequemen herunterzukommen, finden Sie nicht auch?»
    Da Matchett bestimmt keinen weiteren Schuß mehr vergeuden würde, blieb Jury keine andere Wahl. Würde er ihn gleich abknallen, wenn er in sein Blickfeld käme? Oder würde er warten, bis er das Tagebuch in der Hand hätte? Jury hoffte nur, er würde warten.
    «Wenn Sie sich bitte in den Mittelgang begeben, Inspektor. Tut mir leid, aber ich muß dieses Tagebuch haben. Danach können wir dann eine kleine Spazierfahrt machen.»
    Jury atmete auf. Zwischen hier und einem Grab im Wald würde ihm bestimmt noch etwas einfallen. «Ich komme herunter, Matchett.»
    «Sachte, immer sachte!»
    Jury ging zwischen den Bankreihen zu der Treppe hinüber, die Matchett vor ein paar Minuten hinuntergerannt war. Jury blickte in das Kirchenschiff und sah Matchett ungefähr in der Mitte zwischen den Stuhlreihen stehen. Jury schnappte sich eines der Gesangbücher und hielt es mit beiden Händen fest. Dann stieg er die Treppe hinunter. Als er unten angekommen war, hielt er das Buch über seinem Kopf.
    «Bringen Sie es hier rüber –»
    Jury ging auf ihn zu, und als er ungefähr drei Meter von ihm entfernt war, befahl ihm Matchett stehenzubleiben. «Das ist nahe genug –»
    In diesem Augenblick lockerte Jury seinen Griff, und das Gesangbuch fiel auf den weichen Teppich, auf dem sie standen.
    «Wie ungeschickt», meinte Matchett.
    Jury tat so, als wolle er sich bücken, wußte jedoch, daß Matchett ihn davon abhalten würde.
    «Schon gut, Inspektor. Schubsen Sie es einfach mit dem Fuß zu mir rüber.»
    Darauf hatte er gewartet; er hoffte nur, daß ihn sein Bein nicht im Stich lassen würde. Jury trat mit dem Absatz gegen den dünnen Deckel, und das Buch flog zu ihm zurück. Das geschah so schnell, daß Matchett keine Zeit zum Überlegen blieb. Der letzte Schuß ging los, und die Kugel streifte Jurys Arm. Mit einem Satz stürzte sich Jury auf ihn, und es fiel ihm nicht besonders schwer, Matchett gegen den Kirchenstuhl zu drängen; Jury war so geladen – seine ganze Wut auf diesen Wahnsinnigen brach aus ihm hervor –, daß der Tritt und der Kinnhaken, die er Matchett versetzte, beinahe gleichzeitig erfolgten und auch die erhoffte Wirkung hatten. Matchett sackte zusammen und blieb auf den Fliesen zwischen den Stuhlreihen liegen.
    Jury hob das Gesangbuch auf. Das Tagebuch lag immer noch auf der Kanzel. Er hatte es unter die riesige, beleuchtete Bibel geschoben, während er sich mit Matchett unterhalten hatte. Er blickte auf ihn hinunter und fragte sich, ob dieser Mann eine Vorliebe fürs Töten entwickelt hatte, wie andere für Austern. Jury sagte zu der reglosen Gestalt: «Mr. Matchett, Sie sind berechtigt, die Aussage zu verweigern; wenn Sie jedoch eine Aussage machen,
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