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Insel des Sturms

Insel des Sturms

Titel: Insel des Sturms
Autoren: Roberts Nora
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hoben sich vor dem mit rauchigen Wolken behangenen, perlmuttfarbenen Himmel dunkel ab – alles eher auf ein Gemälde als in die Wirklichkeit gehörend.
    Das Gemälde fand sie so schön, dass sie nach längerem Hinschauen das Gefühl bekam, sie glitte mitten hinein, verschmelze mit den Farben, den Formen, der Szene, die irgendein Meister mit Brillanz kreiert hatte.
    Genau das sah sie, wenn sie es wagte, die Augen von der Straße zu erheben. Brillanz und eine überwältigende, betörende Schönheit, die einem das Herz, noch während man ihm gut zuredete, förmlich zerriss.
    Grüne, unglaublich grüne Felder wurden von uralten rauen Hecken oder knorrigen, windgebeugten Bäumen unterbrochen, gefleckte Kühe oder zerzauste Schafe zupften gemächlich an den Grashalmen, Menschen auf Traktoren tuckerten gemütlich darüber hinweg. Hier und da standen kleine, weiß oder cremefarben getünchte Häuser, in deren Gärten frische Wäsche flatterte und vor deren Türen wilde, leuchtend bunte Blumen wucherten.
    Dann ragten wunderbar und massiv die verfallenen Gemäuer einer alten Abtei, wenn auch nur Überreste, so doch stolz, in den blendend hellen Himmel – als warteten sie auf ihre Renaissance.
    Was würdest du empfinden, wenn du dieses Feld überqueren und die glitschigen Stufen zu der alten Brustwehr erklimmen würdest, überlegte Jude. Würdest, oder besser könntest
du die Jahrhunderte spüren, während derer die Füße anderer Menschen dieselben Stufen hinaufgeklettert sind? Würdest du, wie Großmutter behauptet, die Musik und die Stimmen, das Klirren alter Waffen, das Schluchzen von Frauen, das Gelächter von Kindern vernehmen, das bereits vor langer Zeit verklungen ist?
    Natürlich glaubte sie nicht an solche Dinge. Aber hier, in diesem Licht, in dieser Luft, erschien es doch irgendwie möglich.
    Das endlos grüne Land bot dem Betrachter einfach alles, von alter, längst vergangener Pracht bis hin zu reizvoll beständiger Schlichtheit: strohgedeckte Dächer, steinerne Kreuze, Burgen, dann wieder Dörfer mit engen, gewundenen Straßen und Schildern in gälischer Sprache.
    Einmal sah sie einen alten Mann, der mit seinem Hund die Böschung entlang spazieren ging, wo das Gras bis zu den Knöcheln reichte und ein kleines Schild vor Rollsplitt warnte. Zu Judes großer Freude hatten sowohl Mann als auch Hund identische braune Hütchen auf dem Kopf. Sie behielt das Bild lange im Kopf und beneidete die beiden um ihre Freiheit und natürliche Zusammengehörigkeit.
    Sicher gingen sie jeden Tag denselben Weg und kehrten dann, ob Regen oder Sonnenschein, zum Tee zurück in ein romantisches Cottage mit reetgedecktem Dach und einem sorgsam gepflegten Vorgarten. Bestimmt hatte der Hund seine eigene kleine Hütte, aber normalerweise läge er wohl zusammengerollt zu Füßen seines Herrn vor dem Kamin.
    Auch sie liefe gern mit einem derart treuen Freund über diese Felder. Laufen und laufen, bis sie sich setzen wollte. Würde sitzen und sitzen, bis sie wieder aufstehen wollte. Dies war eine Vorstellung, die sie verwirrte. Zu tun, was sie wollte, wann sie es wollte, in ihrem eigenen Tempo und auf ihre eigene Weise.
    Diese einfache, alltägliche Freiheit war ihr vollkommen
fremd. Aber sie fürchtete auch, sie am Ende zu finden, ihr silbriges Ende mit den Fingerspitzen zu berühren und dann wieder zu verlieren.
    Da sich die Straße wie ein schmales braunes Band entlang der Waterford’schen Küste Richtung Süden schlängelte, erhaschte Jude immer wieder einen Blick aufs Meer, das seine blaue Seide mit dem Horizont verwob oder in turbulentem Grün und Grau gegen einen breiten, sanft geschwungenen Sandstrand klatschte.
    Die Anspannung zwischen ihren Schulterblättern nahm ein wenig ab, und ihre Hände umfassten das Lenkrad etwas lockerer. Dies war das Irland, von dem ihre Großmutter zu sprechen, dies waren die Farben, die Dramatik, der Frieden, von denen sie zu schwärmen pflegte. Und dies, so dachte Jude, genau diese Dinge hatten sie bewogen zu kommen: um zu sehen, wo ihre Familie, ehe man ihre Wurzeln ausgerissen und auf der anderen Seite des Atlantiks wieder eingepflanzt hatte, verwachsen gewesen war.
    Sie war froh, dass sie nicht bereits auf dem Flughafen kehrtgemacht und einen Platz in der nächsten Maschine zurück nach Chicago gebucht hatte. Hatte sie nicht den Großteil der dreieinhalbstündigen Fahrt ohne ein einziges Missgeschick hinter sich gebracht? Abgesehen von der kleinen Panne an dem Kreisverkehr in Waterford City, wo sie
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