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Insel des Sturms

Insel des Sturms

Titel: Insel des Sturms
Autoren: Roberts Nora
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dreimal rundherum gefahren war und sich schließlich um ein Haar in einen Wagen mit ebenso hilflosen Touristen gebohrt hatte.
    Im Grunde war ja niemandem etwas geschehen.
    Und jetzt lag das Ziel vor ihr. Die Wegweiser zum Dorf Ardmore waren der Beweis. Auf Grund der sorgfältigen Zeichnung ihrer Großmutter wusste sie, dass der Weiler Ardmore nahe bei dem Cottage lag. Dass sie dort ihre Einkäufe und mögliche andere Besorgungen erledigen konnte.
    Natürlich hatte ihre Großmutter ihr außerdem eine beeindruckende
Liste mit Namen von Menschen gegeben, die sie besuchen sollte – entfernte Verwandte, die sich sicher freuen würden, wenn sie kam. Doch das, so dachte Jude, hatte noch Zeit.
    Wenn sie sich vorstellte, dass sie tagelang mit niemandem ein Wort wechseln musste! Dass niemand ihr irgendwelche Fragen stellen und erwarten würde, dass sie die Antworten darauf fand. Dass sie keinen Small Talk halten müsste wie mit ihren Kollegen und Studenten. Dass es keinen Zeitplan gab.
    Nach einem Augenblick seliger Freude machte ihr Herz einen erschreckten Satz. Was, in Gottes Namen, sollte sie sechs Monate lang tun ?
    Es müssten ja keine sechs Monate sein, tröstete sie sich, als die alte Anspannung wieder zurückkehrte. Niemand konnte sie dazu zwingen. Sie würde nicht verhaftet oder vor Gericht gestellt, wenn sie bereits nach sechs Wochen, nach sechs Tagen oder gar sechs Stunden zurückkehrte.
    Und als Psychologin wusste sie, dass ihr Hauptproblem bei den Erwartungen anderer lag. Einschließlich ihrer eigenen. Obgleich sie akzeptierte, dass sie eine wesentlich bessere Theoretikerin als Praktikerin war, würde sie das auf der Stelle ändern, und zwar für ihren gesamten Irlandaufenthalt.
    Wieder ruhiger stellte sie das Radio an. Angesichts des Stroms gälischer Worte, der aus dem Gerät sprudelte, rollte sie mit den Augen, suchte nach einem Sender in englischer Sprache und nahm dabei versehentlich die Straße weiter Richtung Ardmore statt nach Tower Hill, wo das alte Cottage lag.
    In dem Augenblick, in dem ihr der Irrtum klar wurde, öffnete der inzwischen graue Himmel seine Schleusen, als hätte eine riesengroße Hand ein Messer in die Größte der Wolken gebohrt. Regen trommelte auf das Dach und die Windschutzscheibe ihres Wagens; sie suchte nach dem Schalter für
den Scheibenwischer, fuhr vorsichtig an den Straßenrand und wartete darauf, dass der Guss ein wenig an Gewalt verlor.
    Das Dorf lag am südlichen Zipfel der Grafschaft genau zwischen der Irischen See und der Bucht von Ardmore, Ardmore Bay. Sie hörte, wie der leidenschaftliche, machtvolle Sturm das Wasser gegen das Ufer branden ließ, wie der Wind an den Fenstern ihres Wagens rüttelte und bedrohlich durch einen kleinen Spalt pfiff.
    Sie hatte sich vorgestellt, wie sie durch das Dorf spazierte, sich mit den malerischen Cottages, den rauchigen, sicher gut besuchten Pubs vertraut machte, über den von ihrer Großmutter geliebten Sandstrand, die schroffen Klippen, die grünen Felder schlenderte.
    Doch in ihrer Vorstellung war es ein wunderbarer, sonniger Nachmittag gewesen, an dem die Dorfbewohnerinnen rosige Babys in Kinderwagen durch die Gegend schoben und die Männer augenzwinkernd ihre Mützen lüfteten, wenn sie ihnen begegnete.
    An ein plötzliches gewaltiges Frühjahrsunwetter, dessen heftige Windböen die Menschen von den Straßen in die Häuser trieben, hatte sie nicht gedacht. Vielleicht lebt hier ja auch niemand, argwöhnte sie mit einem Mal. Möglicherweise kam sie um Jahrhunderte zu spät, am Ende war dies inzwischen eine Art potemkinsches Dorf.
    Ein weiteres ihrer Probleme, sagte sie sich streng, war ihre Fantasie, die sie mit betrüblicher Regelmäßigkeit zur Ordnung rufen musste.
    Natürlich wohnten Menschen in dem Dorf, sie waren eben vernünftig genug, vor den verdammten Wolkenbrüchen zu fliehen. Die hübschen Häuser standen nebeneinander wie Damen auf einem Ball, zu deren Füßen jemand Blumen gestreut hatte. Blumen, bemerkte sie, die momentan ziemlich niedergedrückt wurden.

    Es gab keinen Grund, weshalb sie nicht einfach auf den wunderbaren, sonnigen Nachmittag warten sollte, um sich das Dorf genauer anzusehen. Jetzt war sie sowieso zu müde, hatte leichte Spannungskopfschmerzen und wollte nur noch unter irgendein warmes und gemütliches Dach.
    Jude lenkte den Wagen wieder auf die Straße und kroch, aus Sorge, dass sie sonst die Abzweigung abermals verpasste, im Schneckentempo zurück.
    Dass sie auf der falschen Straßenseite fuhr,
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