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Insel der Verlorenen Roman

Titel: Insel der Verlorenen Roman
Autoren: Colleen McCullough
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zuletzt darin gesessen hat? Oder wer in Rownham Meads an Bord der Fähre ist? Und wie könnten wir ihn in einem Wirtshaus isolieren? Das ist hier nicht die St.-James-Kirche an einem Sonntag, obwohl es auch dort sehr lebhaft zugehen kann. Hier gehen alle möglichen Leute ein und aus. Nein, Jim, du musst ihn impfen.«
    »Aber auf eure Verantwortung!«, rief Vetter James und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Dann stolperte er zur Tür hinaus, um bei einem befreundeten Arzt nachzufragen, wo er ein Opfer der Pocken finden konnte, das bereits an offenen Pusteln litt. Ein solcher Patient war schnell gefunden, denn immer mehr Menschen erkrankten an der Seuche. Die meisten waren unter fünfzehn. Erwachsene hatten die Krankheit meist schon gehabt, manche in ihrer schweren, andere in der milden Ausprägung. Nie wusste man vorher, wer leiden und Narben davontragen würde und wer nicht.
    »Bete für mich«, sagte Vetter James zu dem befreundeten Arzt. Dann legte er eine gewöhnliche Stopfnadel auf eine nässende
Wunde im Gesicht eines zwölfjährigen Mädchens. Er drehte die Nadel mehrfach, um sie ganz mit Eiter zu bedecken. Das arme Mädchen! Nie wieder würde sein schönes Gesicht aussehen wie früher. »Bete für mich«, sagte er noch einmal. Er stand auf und legte die eitergetränkte Nadel auf ein Polster aus Scharpie in einer kleinen Blechdose. »Bete, dass ich nicht im Begriff bin, einen Mord zu begehen.«
    Den kurzen Weg von der Wohnung des Pockenopfers in der Trover’s Lane zum Cooper’s Arms legte er im Laufschritt zurück. Dort angekommen, nahm er, den knienden, halb nackten William Henry vor sich, die Stopfnadel aus der Dose, richtete die Spitze auf - auf - wo sollte er den Mord begehen? Einen öffentlichen Mord inmitten der Stammgäste, die auf ihren gewohnten Plätzen saßen. Mr Thistlethwaite gefiel sich darin, immer wieder betont gleichgültig an seinen Zähnen zu saugen, und die Morgans umringten den Vetter, als wollten sie ihn am Fliehen hindern, sollte er auch nur die leisesten Anstalten dazu machen. Doch dann ging alles ganz schnell. Er drückte das Fleisch von William Henrys Arm direkt unterhalb der linken Schulter zusammen, stach die Nadel tief hinein und zog sie einen Zoll daneben an der Spitze wieder heraus.
    William Henry zuckte nicht zusammen und weinte nicht. Er richtete nur fragend seine großen, außergewöhnlichen Augen auf Vetter James’ schweißnasses Gesicht. Warum hast du das getan? Es tat weh!
    Ja, warum, warum habe ich das getan?, dachte Vetter James. Noch nie hatte er solche Augen gesehen! Nicht die Augen eines Tieres, aber auch nicht die eines Menschen. Ein seltsames Kind.
    Er küsste William Henry über das ganze Gesicht, wischte seine eigenen Tränen ab, legte die Nadel in die Dose zurück, um sie später mitsamt der Dose in seinem heißesten Ofen zu verbrennen, und gab William Henry seinem Vater zurück.
    »Hier, es ist getan. Jetzt werde ich beten. Nicht für William Henrys Seele - welches Kind muss schon einen Makel auf seiner Seele fürchten? -, sondern für mein eigenes Seelenheil und dafür, dass ich keinen Mord begangen habe.« Jetzt, danach, war ihm schon ein
wenig besser zu Mute, er verspürte sogar eine gewisse Zuversicht. Wer weiß, vielleicht waren die Aussichten bei ganz kleinen Patienten sogar noch besser. »Hast du Essig und Teeröl? Ich will mir die Hände waschen.«
    Mag stellte einen kleinen Krug Essig, eine Flasche Teeröl und eine Zinnschüssel vor ihn hin und legte ein sauberes Tuch daneben.
    »Drei oder vier Tage lang wird nichts geschehen«, sagte Vetter James, während er sich gründlich die Hände wusch. »Dann, wenn die Impfung anschlägt, wird der Junge Fieber bekommen. Wenn wir Glück haben, ist das Fieber nicht bösartig. Dann eitert nur die Impfstelle. Eine Pustel bildet sich und platzt auf. Wenn alles gut geht, bleibt es bei dieser einen Pustel. Aber mit Gewissheit kann ich es nicht sagen, und ich habe es nicht gern getan.«
    »Du bist der beste Mensch von ganz Bristol, Vetter James!«, rief Mr Thistlethwaite vergnügt.
    Vetter James blieb auf der Türschwelle stehen. »Ich bin nicht dein Vetter, Jem Thistlethwaite - du hast keine Verwandten! Nicht einmal eine Mutter«, fügte er kalt hinzu. Er schob seine Perücke zurecht und verschwand.
    Der Wirt schüttelte sich vor Lachen. »Jetzt weißt du Bescheid, Jem!«
    »Jawohl«, grinste Mr Thistlethwaite unbeeindruckt. Und zu Richard sagte er: »Mach dir keine Sorgen wegen deinem Jungen. Gott würde es
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