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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus
Autoren: Luca Di Fulvio
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glänzenden Bodenfliesen gesetzt, die nach Waschmittel und Bleiche rochen. Ein durchdringender Geruch nach Sauberkeit erfüllte die Luft.
    »Leg deinen Kopf auf meine Beine«, hatte er dem Jungen befohlen. Und der hatte ihm gehorcht und sich ausgestreckt. Er hatte ihm die Haare beiseitegestrichen und die helle, wulstige Narbe entblößt, die sich wie eine gerade Linie ungefähr zehn Zentimeter lang von der Schläfe zur Wange zog. Er hatte sie mit seinen Händen berührt, sie zärtlich gestreichelt, als wolle er sie sich genau einprägen. Dann hatte er die Klinge des Messers hervorschnellen lassen, das er im Malunterricht gestohlen hatte. Und die Haut des Kindes eingeritzt. Das Mondlicht schien durch das kleine vergitterte Fenster ganz oben in der Wand und legte sich wie flüssiges Silber auf die Wunde, die sich öffnete.
    »Du hast ja kein Blut …«, hatte er gesagt.
    Da hatte der Junge sich umgewandt und ihn angesehen. Und er hatte in dessen Augen seine Geschichte gelesen und diese abgrundtiefe Traurigkeit, die so düster und unglaublich alt wirkte, dass er diesen Blick nicht ertragen konnte. Wütend hatte er seinen Kopf weggedreht und hatte verärgert die Messerklinge wieder in der Narbe versenkt und war noch tiefer ins Fleisch eingedrungen.
    Daraufhin hatte sich das weiße Licht des Mondes rot verfärbt. Das klebrige, süßlich riechende Blut war über die weißen Fließen geflossen und hatte den scharfen, tröstlichen Geruch nach Reinigungsmitteln überdeckt. Der Junge hatte gehört, wie es tropfte, und sich lächelnd zu ihm umgedreht. Dann hatte er eine Hand an die klaffende Wunde gelegt und das Blut auf seinem Gesicht verteilt. Und wieder hatte er die Geschichte des Jungen vor sich gesehen. Der ein Engel war. Ein Engel des Schreckens. Ein verwundeter Engel, der in seinem Inneren die Geschichte aller Geschichten barg.
    »Willst du mich küssen?«, hatte ihn der Junge gefragt und ihm seine Lippen hingehalten, die so rosig und zart wie Blütenblätter waren. Dann war er aufgestanden und hatte sich hingekniet, die Jacke seines himmelblauen Schlafanzugs aufgeknöpft und mit den langen schmalen Fingern, die wirkten wie Stängel, an deren Enden tiefrote Blüten sprossen, seinen Körper mit Blut beschmiert. »Willst du es tun?«, hatte er ihn gefragt.
    Er hatte das Messer auf den nun nicht mehr unschuldig weißen Bodenfliesen abgelegt und ihn brutal geschlagen. Auf diese dick und blutrot geschminkten Lippen, auf diese Samtaugen, aus denen ihm alle Geschichten dieser Welt entgegenschrien, und er hatte diese zarten Blütenstängel geknickt, die blühende Liebkosungen verhießen, an denen er sich nicht erfreuen können würde. Hatte auf diesen Penis eingedroschen, der zu groß für ein Kind war, und plötzlich vor Erregung über das erneute Öffnen der Narbe, das er mit eigenen Händen vollzogen hatte, gewachsen war. Er hatte den Jungen auf diesen blutigen Fliesen liegen lassen, die für immer ihre Unschuld verloren hatten. Er hatte diesen unreinen Engel dort sterbend liegen lassen.
    Noch in der gleichen Nacht war er aus dem Waisenhaus geflohen. Er war durch die Dunkelheit geirrt, auf der Suche nach etwas, was vielleicht noch rein war. Das nach Frische, Waschmittel und Bleiche duftete. Auf der Suche nach etwas Weißem.
    Doch ab und zu, selbst nach all diesen Jahren, wurden die weißen Fliesen wieder beschmutzt.
    Und in dieser Nacht des Blutes umklammerte seine Hand wieder das Papiermesser.
    Er hatte nicht vorgehabt, ihr etwas anzutun, wollte ihr eigentlich nur danken.
    Doch sobald die Nutte ihn erkannte, riss sie vor Entsetzen die Augen weit auf, rang verzweifelt die Hände und flehte ihn an, sie zu verschonen. Primo Ramondi verabscheute diese Reaktionen, weil sie sein wahres Ich in ihm weckten. Als er sie weinen sah – sie wirkte so schwach, so schicksalsergeben –, musste er seinem Trieb einfach nachgeben und erteilte ihr die verdiente Lektion. Das war schließlich auch irgendwie ein Dank dafür, dass sie nicht gegen ihn ausgesagt hatte. Vielleicht gefiel ihr diese Art der Dankbarkeit nicht besonders, doch dafür würde sie für immer tiefe Spuren in ihrem Gedächtnis hinterlassen. Und auf ihrem Körper.
    Er ließ sie auf dem Bürgersteig liegen. Auf dem Boden. Lebend.
    Um diese Zeit war das Viertel menschenleer. Es gab keine Zeugen. Die Nutte würde ohne Hilfe aufstehen, nach Hause gehen und die Schnitte an ihren Brüsten verbinden. Das hatte sie schließlich vor einem Jahr schon einmal getan. Sie war es ja bereits
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