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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus
Autoren: Luca Di Fulvio
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er viele Stunden damit verbracht, ihre Bewohner zu beobachten. Die Leute in einem Haus waren wie die Lebenssäfte eines Baumes. Unbewusst hielten sie es am Leben. Nein, sie schenkten ihm sogar eine Persönlichkeit, einen eigenen Charakter. Einzeln genommen waren die Bewohner bedeutungslos. Es war völlig unwichtig, was sie von Beruf waren oder was sie dachten. Doch sie alle hatten ihren Anteil daran, diesen Wohnblock lebendig, besonders, ja einzigartig werden zu lassen. Deshalb regte Primo Ramondi sich so auf, wenn er entdeckte, dass einer der Bewohner sich nicht dem Gemeinwohl unterordnete.
    Als er vor der Eingangstür stand, einer Doppeltür aus Glas, hörte er hinter sich ein Geräusch. Er drehte sich um und sah, wie ein großer schwarzer Kater maunzend auf ihn zulief. Primo Ramondi hockte sich hin und streichelte das Tier sanft.
    »Golia, Golia …«, sagte er ganz zärtlich. »Dein Frauchen sollte besser auf dich aufpassen. Sie dürfte dich nicht frei herumlaufen und überall hinpinkeln lassen, sonst werde ich mich noch irgendwann einmal mit dir befassen müssen. Das ist dir doch klar, nicht?« Dann stand er auf, öffnete die Eingangstür und ließ den Kater rasch hineinschlüpfen.
    Ramondi nahm den Aufzug und stieg im siebten Stock aus. Er überprüfte genau das winzige Stück Tesafilm, das er zwischen Rahmen und Tür angebracht hatte. Es klebte noch fest. Niemand hatte versucht, in seine Wohnung einzudringen, vielleicht bildete er sich ja auch nur ein, er würde verfolgt. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die drei Sicherheitsriegel. Drinnen schaltete er das Licht ein und schnupperte. Es roch nach Orangenblüten. Der Mann in der Drogerie hatte ihm gesagt, sie würden stimmungsaufhellend wirken, doch er zog Neroliöl vor, das hatte einen ganz eigenen Geruch und passte besser zu dem Weihrauch, den er ständig entzündete, um die Luft zu reinigen. Er öffnete eine Klappe in der Wand. Das Geräusch des Schlüssels im Schloss hatte die Aufnahme gestartet. Der Zähler zeigte an, dass der Apparat bis jetzt ausgeschaltet geblieben war. Er blieb stehen und wartete fünfundvierzig Sekunden. Dann schaltete sich der Rekorder ab. Primo Ramondi lächelte zufrieden. Er schnippte mit den Fingern. Das Aufnahmegerät schaltete sich wieder ein. Nun schloss er die Klappe, ging zum Bücherregal und schaltete den Scanner ein, der auf die Frequenzen des Polizeifunks eingestellt war. Das war besser als jede Musik.
    Die Wohnung war erst vor kurzem frisch gestrichen worden. Das tat er jedes Jahr. Primo Ramondi hasste vergilbtes Weiß, weil es seine ganze blendende Reinheit einbüßte, wenn es gelbstichig wurde. Er hatte auch den Boden weiß gestrichen. Mit der gleichen Farbe, die man für Zebrastreifen verwendete. Eine Farbe, die allem widerstand, Kälte, Hitze und Regen. Die genauso widerstandsfähig war wie er. Weiß waren auch die beiden Sofas, die einander gegenüberstanden, aber nie benutzt wurden, da er niemandem erlaubte, seine Wohnung zu betreten. Genauso weiß wie der kleine Couchtisch dazwischen, das Bücherregal und sogar die Bücher, die er alle mit einer weißen Selbstklebefolie einband. Sonst waren die Wände leer. Sein Schlafzimmer war ebenfalls weiß, bis hin zu dem Kruzifix, das ihm seine Großmutter hinterlassen hatte, einer der wenigen Gegenstände, die er aus seiner Vergangenheit mitgenommen hatte. Er hatte Christus und das Kreuz auf Vorder- und Rückseite mit einer ungiftigen, wasserlöslichen Lackfarbe übermalt und sogar den Nagel weiß angestrichen, mit dem das Kruzifix oberhalb seines Bettes an der Wand befestigt war, um ihn vor den bösen Menschen zu beschützen, wie zum Beispiel vor diesem Polizisten, der ihn quälte, der ihn schon verhaftet und ihn in eine ekelerregend schmutzige Zelle gesperrt hatte. Genauso schmutzig wie das Kind, von dem er ständig träumte, das die ganze Wohnung mit seinem Blut vollschmierte. Und mit dem Blut seine Geschichte schrieb.
    Auf einer weißen Wandtafel in der Küche standen fünf Frauennamen. Primo Ramondi löschte den obersten von der Liste, den der Prostituierten, bei der er sich vor wenigen Minuten bedankt hatte. Jetzt fehlten ihm noch vier. Vier Huren, die es sich im letzten Moment überlegt, ihre Aussagen zurückgezogen und sich geweigert hatten, im Prozess gegen ihn auszusagen. Er würde sich auch bei ihnen bedanken und zwar genau in der Reihenfolge, wie sie dort auf der Tafel standen. Er konnte es kaum erwarten, seine Aufgabe zu erledigen. Alle fünf
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