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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition)
Autoren: Clemens J. Setz
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werden, ebenfalls nicht.
    Es entstand eine kurze Pause, da ich nicht schnell genug mitschreiben konnte.
    – Und wann haben Sie zum ersten Mal mit einem dieser Kinder gearbeitet? Wie hat sich das ergeben?
    – Hm. Ich war damals nicht wirklich an solchen familienübergreifenden Problemen interessiert, obwohl das heute vielleicht engstirnig klingt. Aber damals, ich meine, die späten Neunziger, das waren sozusagen die zweiten Siebziger für die Entwicklungspsychologie. Es war eine irre Zeit.
    KEIN FAM.-ÜBERGR. PROBL., ENGSTIRNIG, 90ER = 70ER, IRRE t
    – Aber natürlich, redete Frau Häusler-Zinnbret weiter, natürlich kann man das oft nicht einfach so ausblenden, ich meine dieses ganze Problemfeld, Schule, Elternhaus, Veranlagung, Lernumgebung, Begabung, wie wird ein Kind, das bestimmte Schwierigkeiten in der Schule hat, beispielsweise durch seine persönliche Umgebung eingeengt und so weiter. Jedenfalls habe ich immer deutlicher gemerkt, dass ich diese … Okay, ich gebe Ihnen am besten ein Beispiel, ja? Ich betrete einen Raum, und da brüllt irgendeine Oper in voller Lautstärke aus einer Stereoanlage, schon mal das sehr komisch, und die Familie auch vollkommen hysterisch, in Tränen aufgelöst, und ich sehe das Kind im Gitterbett und, mein Gott, das war vielleicht ein Anblick, dieses vollkommen ratlose kleine Gesicht. Ehrlich und aufrichtig ratlos, dabei erst zwei Jahre alt. Aber bereits mit seinem Latein am Ende, sozusagen.
    Ich nickte nur.
    – Dabei war diese Zeit noch nicht so hysterisch wie die heutige. Damals durfte man immerhin jemanden, der sich mit der Hand an die Schläfen griff, fragen, ob er Kopfschmerzen hat. Aber heute, päh! Unmöglich. Denn es könnte ja direkt hinter ihm … ach, was für ein Elend …
    Sie lachte. Und fügte hinzu:
    – Sie wissen genau, was ich meine, oder?
    Ich nickte unbestimmt.
    – Wie oft haben Sie sich einen solchen Fauxpas geleistet?
    – Ein paar Mal.
    – Dr. Rudolph, sagte Frau Häusler-Zinnbret kopfschüttelnd. Ich wette, er bringt sogar seinen Hunden bei … ach, egal. Auf Tiere hat es ja auch gar keine Auswirkung, von einigen Ausnahmen abgesehen. Diese Fälle sind Gott sei Dank sehr selten. Und es könnte sich bei ihnen auch um ganz normale statistische Schwankungen handeln. Bei einem Affen aus einer Versuchsanstalt zum Beispiel, der war, warten Sie, ich schaue kurz nach …
    Sie stand auf und ging zu ihrem Bücherschrank.
    – Ich zeig Ihnen das Bild, murmelte sie.
    Als sie es gefunden hatte, hielt sie das aufgeschlagene Buch in meine Richtung. Das Bild zeigte einen Affen in einem Karton. Das Gesicht schmerzverzerrt. Ich wandte mich ab, streckte eine Hand abwehrend aus und sagte:
    – Nein danke, lieber nicht.
    Sie schaute mich überrascht an. Ihr rechter Schuh machte eine kleine Drehung. Dann hörte ich, wie sie das Buch zuklappte.
    – Wie? Sie möchten lieber nicht, dass ich Ihnen das Bild zeige, oder – 
    – Ja, sagte ich. Ich halte so etwas nicht aus.
    – Aber Sie müssen doch wissen, wie das aussieht, wenn Sie sich für diesen Themenkomplex interessieren. Es ist auch gar nicht so schlimm, warten Sie …
    Ich hielt mich an der Sitzfläche meines Stuhls fest. Julia hatte mir geraten, bei plötzlicher Angst meine ganze Aufmerksamkeit auf etwas Vergangenes zu richten. Wie immer fiel mir die weiße Freitreppe ein. Wolkenloser Himmel. Die Venus am hellen Tag sichtbar.
    – Machen Sie die Augen auf, sagte Frau Häusler-Zinnbret sanft. Es ist alles okay.
    – Entschuldigen Sie, sagte ich. Ich reagiere ganz schlecht auf solche Dinge. Tiere und so. Wenn sie … Sie wissen schon. Es ist sozusagen eine Phobie von mir.
    Eine kurze Pause. Dann sagte sie:
    – Phobie. Ich weiß nicht, ob das das richtige Wort ist, Herr Setz. Sind Sie sicher, dass Sie das Bild von dem Affen nicht sehen wollen? Soll ich es Ihnen vielleicht beschreiben? Die Vorrichtung? Würde das helfen?
    – Nein, bitte …
    Ich musste mich nach vorne lehnen, um besser Luft zu bekommen.
    – Du meine Güte, sagte Frau Häusler-Zinnbret. Nein, dann lasse ich Sie damit natürlich in Ruhe.
    – Danke, sagte ich.
    Mein Gesicht war heiß, und ich hatte das Gefühl, durch ein Aquarium zu blicken.
    – Waren Sie deswegen schon mal in Behandlung?, fragte sie in dem bisher freundlichsten Tonfall, den ich an ihr wahrgenommen hatte. Ich könnte Ihnen jemanden empfehlen, wenn Sie …
    – Nein, danke.
    – Wirklich? Ich glaube schon, dass Sie sich damit auseinandersetzen sollten. Zum
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