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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut
Autoren: Michael Swanwick
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aufs Land hinunter und sehe mein Leben unter mir ausgebreitet. Wir nähern uns Ysolts Verrat, der bisweilen Cuckold genannt wird, und ein Stückchen weiter liegt Penelopes Fehltritt, dann kommen Fiebertod und Entsagung. Am Ende der Strecke liegt Kap Desillusion, und das gilt für alle meine Ehefrauen. Ich habe mich vom Land zurückgezogen, vermag es aber nicht ganz loszulassen. Ich warte. Ich warte. Worauf? Vielleicht, daß es Tag wird.«
    Bergier riß die Fensterläden auf. Der Bürokrat zuckte zusammen, als heller Sonnenschein hereinströmte, sie mit seinem Glanz übergoß und den Kommandanten in einen bleichen alten Mann mit schlaffen Wangen verwandelte. In der Tiefe erblickte er Dächer und Türme, Baumwipfel und eine goldene, mit Antennen gespickte Kuppel, die von Lightfoot zu ihnen emporragte.
    »Ich bin die Made im Schädel«, sagte Bergier bedächtig, »die sich im Dunkeln windet.« Die Unlogik und Plötzlichkeit der Bemerkung ließ den Bürokraten zusammenfahren, und erschauernd wurde ihm klar, daß diese durchdringenden Augen das Entsetzen nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft erblickten. Die langsame Sprechweise des alten Kommandanten barg einen Vorgeschmack auf die einsetzende Senilität, so als sähe er sich unaufhaltsam dem zahnlosen Elend und einem Tod entgegentreiben, der vom Leben nicht deutlicher unterschieden war als die Linie, welche das Meer vom Himmel trennt.
    Als sie sich zum Gehen wandten, sagte der Kommandant: »Leutnant Chu, ich erwarte, daß Sie mich auf dem laufenden halten. Ich werde Ihre Fortschritte genau verfolgen.«
    »Sir.« Chu schloß die Tür, sie stiegen die Treppe hinunter. Chu lachte hell. »Haben Sie die Tabletten bemerkt?« Der Bürokrat brummte etwas. »Sumpfhexenpillen, sollen gut gegen Impotenz sein. Sie bestehen aus Wurzeln und Bullensperma und ähnlichem widerlichen Zeugs. Alter schützt vor Torheit nicht«, sagte sie. »Er verläßt diese kleine Kabine nie, wissen Sie. Er ist berüchtigt deswegen. Er schläft sogar darin.«
    Der Bürokrat hörte nicht mehr zu. »Er ist irgendwo in der Nähe.« Er spähte mit angehaltenem Atem in die Dunkelheit, hörte aber nichts. »In irgendeinem Versteck.«
    »Wer?«
    »Ihr Doppelgänger. Der junge Teufelskerl.« Zu seiner Aktentasche sagte er: »Rekonstruiere seine genetische Spur und baue mir einen Lokalisieren Damit kommen wir ihm auf die Schliche.«
    »Das ist verbotene Technik«, sagte die Aktentasche. »So etwas darf ich auf einer Planetenoberfläche nicht anfertigen.«
    »Verdammt noch mal!«
    Die Luft im Schiffsinneren war unbewegt, schien unter Spannung zu stehen. Sie summte von den Vibrationen des Antriebs und war so lebendig wie eine zusammengerollte Schlange. Der Bürokrat spürte, wie ihn der falsche Chu aus dem Dunkel heraus beobachtete. Und lachte.
    Chu legte ihm eine Hand auf den Arm. »Nicht.« Sie machte ein besorgtes Gesicht. »Wenn Sie sich emotional engagieren, hat Sie der Gegner in der Hand. Beruhigen Sie sich. Wahren Sie Distanz.«
    »Ich ...«
    »... muß mir von so einer wie Ihnen nichts sagen lassen. Ich weiß.« Sie grinste großspurig, wieder ganz die überlegene Zynikerin. »Die planetarischen Behörden sind allesamt korrupt und ineffektiv, dafür sind wir bekannt. Trotzdem sollten Sie auf mich hören. Hier kenne ich mich aus. Ich weiß, mit welchen Leuten wir es zu tun haben.«

    »Paß doch auf, Mann!«
    Der Bürokrat trat zurück, während vier Männer einen Balken aus dem Schlamm hoben und ihn auf einen Sattelschlepper hievten. Auf der Ladefläche stand eine stämmige Frau mit rotem Haar und bediente die Winde. Selten hatte er so baufällige Häuser gesehen wie hier, unbemalt, mit geborstenen Fenstern und fehlenden Dachziegeln. An der Nordseite waren sie mit einer Kruste aus Klettfliegen bedeckt.
    Der Boden fühlte sich weich an. Der Bürokrat schaute bedauernd auf seine Schuhe hinunter. Er stand im Schlamm. »Was geht hier vor?« fragte er.
    Ein verhutzelter alter Krämer, dessen Kleidung an ihm herunterhing, als wäre er geschrumpft oder die Kleider wären größer geworden, schaute von seiner Veranda aus zu. An seinem linken Ohrläppchen baumelte ein silberner Totenschädel, der ihn als ehemaligen Angehörigen der Raummarine auswies, und in einem Nasenflügel steckte ein Rubin, der verriet, daß er ein Veteran des Dritten Einigungskrieges war. »Reißen die Gehsteige auf«, sagte er mürrisch. »Echte Meereseiche, die jetzt bald ein Jahrhundert in der Erde reift. Mein Großpapa hat sie
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