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In sueßer Ruh

In sueßer Ruh

Titel: In sueßer Ruh
Autoren: C. E. Lawrence
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Wahrheit. Aber Lee hatte nicht vor, auf die Geschichte seines Nervenzusammenbruchs und den anschließenden Krankenhausaufenthalt einzugehen.
    Der Barkeeper drehte sich um und schenkte in einer einzigen fließenden Bewegung einem Kunden nach, während er einem weiteren seine Kreditkartenquittung überreichte. Jan war lässig, und Lee mochte es, ihm bei der Arbeit zuzusehen und das Vergnügen, das er daran hatte, zu genießen. Jan hatte ein langes, bleiches Gesicht mit heiteren Augen unter den herabhängenden Lidern, ein Büschel sandblonder Haare und nicht einmal die Andeutung eines Kinns. Wenn er den Drang verspürt hätte zu schauspielern – was jeder andere in Rufweite des Restaurants tat –, hätte er vermutlich allein wegen seines Gesichts Hauptrollen in Komödien an Land gezogen.
    »In Kroatien gibt es ein Sprichwort«, erklärte Jan, als er in dem Regal hinter sich nach zwei Manhattan-Gläsern griff. »Arbeit ist die Geliebte des armen Manns.«
    Lee lachte und stieß Kathy an. »Jan ist voller kroatischer Sprichwörter, ich glaube allerdings, dass er sie sich ausdenkt.«
    Jan wirbelte herum und stellte je ein Glas vor die beiden. »Deine Freundin?«, fragte er lächelnd mit zur Seite geneigtem Kopf.
    »Ja«, antwortete Kathy, »ich bin seine Freundin.«
    Jan grinste Lee an. »Du Glücklicher – vielleicht zu Glücklicher?«
    »Sicher doch«, erwiderte Lee, dessen Stimmung sich bereits hob. »Ganz egal, was du sagst.«
    »Trinkt sie auch einen Manhattan?«, erkundigte sich Jan zögernd, eine Flasche Whiskey in der einen, eine Flasche Wermut in der anderen Hand.
    »Tut sie«, gab Kathy zurück.
    »Sehr gut!« Jan strahlte und goss eine großzügige Menge von beidem in einen silbernen Cocktailshaker. Er fügte einen Spritzer Angostura und Eis dazu und schüttelte das Ganze exakt vier Mal. Tat man es häufiger, hatte er Lee schon des Öfteren erklärt, lief man Gefahr, dass der Wermut blaue Flecken bekam.
    Er füllte ihre Gläser, indem er den Shaker schwungvoll in die Luft hob, ohne dass ein einziger Tropfen danebenging. Dann zwinkerte er Lee zu.
    »Lass mich wissen, wenn du noch einen willst.«
    »Danke, mach ich«, erwiderte Lee und hob sein Glas in Kathys Richtung.
    »Prost«, sagte sie. »Aufs Überleben.«
    »Aufs Überleben«, sagte er und nahm einen tiefen Schluck. Der Cocktail war gut – sehr gut sogar. »Du machst wirklich einen klasse Manhattan, Jan. Also, wie war das mit dem Sprichwort, über das du uns was erzählen wolltest?«
    Jan grinste. »Vielleicht glaubt ihr mir nicht«, meinte er und beugte ein wenig den Oberkörper, um im Spülbecken unter der Bar einige Gläser abzuwaschen. Der vertraute Klang von Glas, das gegen die Metallwände der Spüle schlug, hatte seltsamerweise etwas Tröstliches – mochte kommen, was wolle, hier im Sardi’s ging alles seinen gewohnten Gang.
    »Ich glaube dir!«, erklärte Lee lachend.
    »Bitte erzählen Sie es uns«, bat Kathy.
    »Okay«, willigte Jan ein. »Ich werd’s deiner Freundin erzählen, weil sie so hübsch ist. In Kroatien gibt es das Sprichwort: Kein Freund ist wirklich tot, solange er in deiner Erinnerung lebt.«
    Das Paar am Ende der Bar hob seine Gläser und prostete ihnen zu.
    »Auf abwesende Freunde«, sagte der Mann im Smoking.
    »Auf dass sie in unserem Gedächtnis weiterleben«, sagte Kathy und hob ihrerseits das Glas.
    Einer nach dem anderen ergriffen alle, die an der Bar saßen, gleich, was sie tranken, ihre Gläser und erhoben sie.
    »Auf abwesende Freunde«, murmelte Lee.
    »Mögen sie in Frieden ruhen«, sagte die Blonde.
    Alle senkten die Köpfe – und dann, so ehrfurchtsvoll, als nippten sie bei einem Abendmahl am Wein, tranken sie.
    »Auf abwesende Freunde«, sagte Jan leise. »Gestorben, aber unvergessen.«
    Amen.

KAPITEL 8
    Joselin Rosario war überrascht, dass schon Licht brannte, als sie am Donnerstagmorgen um kurz nach acht im New York Blood Center auf der East 67th Street ankam. Sie war wie gewöhnlich früh dran. Bis neun würden die Türen für die Öffentlichkeit verschlossen bleiben, aber sie mochte es, Zeit für sich zu haben, in Ruhe ihren Kaffee zu trinken und Zeitung zu lesen. Zeit, die sie zu Hause, umgeben von einem Ehemann, drei Kindern, ihrer Mutter und einem Hund, nur selten fand. Dass sie von ihrer Wohnung in Washington Heights so früh zur Arbeit aufbrach, war etwas, das sie für sich tat. Diese Stunde jeden Tag gehörte allein ihr. Genau wie Oprah Winfrey sagte: Kümmere dich erst mal um dich selbst, bevor du
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