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In sueßer Ruh

In sueßer Ruh

Titel: In sueßer Ruh
Autoren: C. E. Lawrence
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leidtat.
    Die meiste Zeit allerdings hasste er es, wie sich ihr Familienleben verändert hatte. Alles war jetzt anders. Jeder ging leise umher und sprach mit gedämpfter Stimme. Alles drehte sich um Edwinas Krankheit, und Davey kam sich vor wie ein Gespenst, unsichtbar und nicht zu hören. Wenn er sprach, tat seine Mutter so, als höre sie ihm zu, aber er wusste, dass sie in Gedanken bei Edwina war und dabei, wie es ihr heute ging. Sein Vater gab nicht einmal vor zuzuhören. In den letzten paar Wochen, nachdem der Zustand seiner Schwester eine Wende zum Schlechteren genommen hatte, hatte er kaum mit Davey gesprochen. So hatte es seine Tante Sarah jedenfalls genannt: »eine Wende zum Schlechteren«. Er hatte allerdings keine Ahnung, was das bedeuten sollte.
    Er schlich im Haus herum und fing Gesprächsfetzen über Edwina auf. Und versuchte, aus diesen Wörtern und Ausdrücken schlau zu werden: »Blutkrankheit«, »Gerinnungsfaktor«, »genetischer Defekt« und so weiter. Er prägte sich das Gehörte ein, auch wenn er es nicht verstand. Er war ein intelligentes Kerlchen, auch wenn das niemand zu wissen oder zu interessieren schien. Irgendwann begriff er, dass mit dem Blut seiner Schwester irgendetwas nicht stimmte, dass das in der Familie lag und eine Generation überspringen konnte. Sollte er zum Beispiel einmal Kinder haben, könnten diese auch erkranken und jung sterben. Davey entwickelte die Angst, der Rest der Familie würde ebenfalls krank werden – und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er selbst es bekam und starb.
    Und obwohl er nur ein Kind war, wusste er, dass Edwina im Sterben lag. Auch wenn er erst sieben war, erkannte er es an der unnatürlichen Blässe seiner Schwester, aus deren Wangen jegliche Rosigkeit gewichen war, und dem allmählichen Schwächerwerden nach einem ihrer »Anfälle«. Sie durfte nicht rennen und nicht toben, sich nicht hinfallen lassen und im Gras herumtollen wie andere Kinder. Nach einiger Zeit durfte sie überhaupt nichts mehr. Und dann irgendwann war sie zu schwach, um es noch zu wollen.
    Edwina war erst fünf, aber sie würde sterben. Dieser Gedanke erfüllte Davey mit Todesangst und einer unerträglichen Traurigkeit.
    In dem Moment, als er am Bett seiner Schwester ankam, spürte er plötzlich etwas Warmes, Nasses in seiner Hose und dann ein kitzelndes Gefühl, das die Innenseite seines Beins hinunterkroch. Er hörte seine Tante Sarah nach Luft schnappen.
    »O mein Gott, der Junge hat sich nass gemacht!«
    Überwältigt von Scham und Demütigung, drehte Davey sich um und floh aus dem Zimmer.

KAPITEL 7
    »Willst du was essen?«, fragte Kathy. »Ich bin am Verhungern.«
    Sie schlenderten nach dem Konzert den Broadway hinunter und näherten sich dem Times Square. Seine übermütigen Neonlichter schwappten gelegentlich auf die Leinwand des Nachthimmels, als hätte jemand einen Farbeimer dort hinaufgeschleudert. Die Luft war warm und verlockend, ein perfekter Abend, um ziellos dahinzubummeln.
    »Du hast doch immer Hunger«, sagte Lee. Sie passierten gerade einen Souvenirladen, dessen polierte Schaufenster mit Kinkerlitzchen für Touristen vollgestopft waren: kleine grüne Nachbildungen der Freiheitsstatue, Baseballkappen mit der aufgedruckten Erklärung ICH LIEBE NY, Ansichtskarten vom Chrysler und vom Empire Building. Er fragte sich, ob sie auch noch immer Ansichtskarten vom World Trade Center verkauften.
    Das Konzert in der Carnegie Hall war ein sehr emotionales Erlebnis gewesen. In den leiseren Bereichen war deutliches Schluchzen aus dem Publikum zu vernehmen, und Lee waren bei dem bewegenden Chor Wie lieblich sind deine Wohnungen fast die Tränen gekommen. Er war hundemüde und erschöpft und wollte heim. Er sah Kathy an, die während des Konzerts nicht geweint hatte, obwohl sie einmal nach seiner Hand gegriffen und fest zugedrückt hatte, wobei sich ihre kräftigen Finger in seine Handflächen bohrten. Er hatte noch nie eine Frau mit so starken Händen gekannt.
    »Ich habe nicht immer Hunger«, erklärte sie. »Vielmehr hast du fast nie welchen.«
    »Ich könnte einen Drink vertragen«, meinte er.
    »Da ist das McHale’s«, sagte sie, als sie an seinem alten Stammlokal an der Ecke zur 51st Street vorbeikamen. Das rote Neonlicht des Kneipenschilds warf einen warmen Schimmer in die neblige Nachtluft.
    »Nicht heute Abend.«
    Sie standen auf der dreieckigen Verkehrsinsel an der Kreuzung Broadway und Seventh Avenue, unterhalb des Pavillons, in dem man Theaterkarten zum halben
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