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In Santiago sehen wir uns wieder

In Santiago sehen wir uns wieder

Titel: In Santiago sehen wir uns wieder
Autoren: Brigitte Uhde-Stahl
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mir. Das dunkle, härene Pilgergewand wiegt schwer auf meinen Schultern, es kratzt auf der Haut, und die Füße brennen. Ich gehe an meinen Platz.
     
     
    Montag, 4. August
     
    Es ist sieben Uhr, die Kathedrale wird geöffnet. Ein Domherr liest die Messe in der Gruft vor dem silbernen Reliquiar des Heiligen, hinter Gittern. Er nimmt mich nicht wahr, kürzt die Messe ab, als er bemerkt, dass ich die liturgischen Antworten nicht spreche. Er geht, und ich bin allein in dem kleinen Raum unter dem Chor. Da sehe ich - ich sehe: Vor dem Reliquiar befindet sich eine riesige Lichtsäule, sie kommt von unten aus dem Boden und reicht durch die Kathedrale hindurch in den Himmel. Sie strahlt von jeher, ist schon immer da gewesen. Weit älter ist sie als das Grab hinter ihr, in dem angeblich die Gebeine eines Heiligen liegen. Aber dies spielt keine Rolle, denn die Säule hat einen Namen, der alles umfasst, alles, also auch dies.
    Auf dem Platz vor der Kathedrale ist es lebendig geworden. Zwei Kinder spielen. Sie klatschen in die Hände, hüpfen auf den Pflastersteinen, laufen über den Platz. Ihre Mütter schauen lachend zu, Säuglinge im Arm.
    Amanda: »Bella, was ist? Was hast du gesehen?« - »Ich kann den Namen nicht aussprechen, er ist zu groß.« - »Ich werde schweigen wie ein Grab.« - »Grab?« Das Wort hallt in mir nach, mächtig wie eine Kirchenglocke. »Dass wir von weit herkommen, Amanda, als Pilger durch das Tor der Geburt die Erde betreten und durch das Leben ziehen, immer wissend, dass ein anderes Tor auf uns wartet.« - »Erschreckt dich das?« - »Es ist nicht die Angst vor dem Tod, sondern ein tiefes Erschrecken darüber, dass es so ist wie es ist - ein Mysterium auch dies, ich werde es nie begreifen.« - »Was sagt dein Herz, Bella?« - »Mein Herz, Süße, kennt diese Frage nicht... Morgen fahren wir nach Finisterra.«
     

Finisterra
    Dienstag, 5. August
     
    Es ist brütend heiß, als wir beim Leuchtturm ankommen. Das Ende der Welt, der Tellerrand. Autos, Menschen, Andenkenbuden. Ich steige hinauf zu den heiligen Steinen. Unter mir der Ort, die beiden Strände, die Landzunge mit dem Kap. Das Meer, das sich in den Dunst des Horizonts auflöst. Winzige Schiffe, Möwen, die Sonne. Und wieder: Kraft, ein gigantischer Wirbel von Licht, der sich aus der Erde wie aus einem Nabel windet. Aber mit dem in Santiago Geschauten hat er nichts zu tun.
    »Amanda«, sage ich, »es ist Zeit. Wir sind am Ende angelangt.« Ich nehme die Pilgermuschel vom Rucksack, halte sie in den Händen, und - die Muschel ist leer. Mit Schwung werfe ich sie in den Himmel hinein.
     

Die Rückkehr
     
    ❖❖❖❖❖❖❖❖
     
     

Die Sonne ist im Westen untergegangen. Die Berge jenseits der Schlucht flammen rötlich auf. Ich gehe durch den Garten. »Bella, wohin gehst du?« höre ich eine Stimme sagen. »Amanda!« Da sitzt Amanda vor mir im Gras, ihr Haus schimmert im vergehenden Licht. »Amanda, du hier? Wie kommst du...?« - »Frag nicht, Bella, auch ich habe meine kleinen Geheimnisse... Aber du, willst du mir nicht erzählen, wie du zurückgekommen bist, vom Ende der Welt hierher nach Beaulieu? Es ist nicht der direkteste Weg.«
    »Amanda, die Wunder haben auch nach Santiago nicht aufgehört.« Und ich erzähle der Gefährtin die Geschichte meiner Rückkehr.
    »Drei Tage dauerte es, bis ich die Lasten der Pilgerschaft abwerfen und wieder singen konnte. Ich schlief in einer Pension, mit eigenem Bad, welch ein Genuss. Eine Nacht verbrachte ich draußen am Strand. Von den Menschen, die ich traf, kannte ich viele. Alle hatten leuchtende Augen. Nach fünf Tagen nahm ich den Bus zurück nach Santiago. Am Abend fand ich in den Straßen um die Kathedrale meinen Freund, den russischen Gitarrenspieler. Stundenlang lauschte ich seinem Spiel. Im Hintergrund leuchtete die Kathedrale, in deren Innern... du weißt. Am nächsten Tag reiste ich mit dem Zug nach Burgos. In der Ferne sah ich die Berge, über die ich gestiegen war. Wir hielten an Orten, die ich durchquert hatte, Ponferrada, Astorga, León. Wir fuhren den ganzen Tag, Stunde um Stunde - ich konnte nicht fassen, dass ich diese Strecke zu Fuß durchmessen hatte. Während der Fahrt durch die Meseta schlief ich. Von Burgos aus ging es im Bus weiter nach Logroño. Spät kam ich an, es war kochend heiß. Obwohl alle Hotels bis unters Dach belegt waren, fand ich, ich weiß nicht wie, ein Zimmer. Am nächsten Tag brachte mich ein Bus nach Puente la Reina. In der mittäglichen Gluthitze wanderte
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