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In Santiago sehen wir uns wieder

In Santiago sehen wir uns wieder

Titel: In Santiago sehen wir uns wieder
Autoren: Brigitte Uhde-Stahl
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Die Stufen hinunter, unter einem Torbogen hindurch: Wir sind vor der Jakobskirche angelangt. Hoch über uns türmt sich die Fassade, überwuchert von Figuren, Zierrat, Schnörkeln. Davor auf dem weiten Platz Menschen, Touristen, Pilger - Freude herrscht, Jubel, man fällt sich um den Hals. Aber ich, ich gehe alleine. Langsam trete ich durch das Eisengitter, langsam steige ich die Treppen hinauf. Der Rucksack, mein Haus, muss mit, durch das Tor links - ich stehe vor der hohen Jakobsstatue des romanischen Portals. Mit welch heiterer Schönheit schaut er herab!
    Wie der Tau eines jugendlichen Morgens. Es ist dunkel für die Augen, die aus der Helle kommen. Menschen, ein Weg zwischen Säulen und Arkaden, in der Ferne ein goldener Schimmer. Ich lege meine Hände in die Mäuler der Löwen zu Füßen des Heiligen, berühre die fein ziselierte Säule darüber, grüße mit der Stirn die Stirn des Baumeisters Mateo - so will es der Brauch. Wie ich mich aufrichte, ruft etwas vom Boden herauf... ich sehe hinab. Da stehen meine Füße - »Bella, da bist du ja, in der Goldenen Stadt, endlich!« Mein Herz jubelt, wie ich mit meinen Füßen in meine Füße schlüpfe. Amanda in der Pilgermuschel stimmt ein Hochzeitslied an, und so ziehen wir ein in das Paradies. Langsam, ganz langsam schreite ich durch das Mittelschiff nach vorn. In der vordersten Bank vor dem Chorbereich setze ich den Rucksack ab - leicht bin ich, frei, der goldene Schimmer vom Altar des Heiligen streift mich. Fluten schwemmen, Mauern krachen, Schlösser springen auf. Ich bin in der Goldenen Stadt meines Herzens angekommen.
     
    ❖
     
    »Was hast du gespürt?« - »Lass mich, Amanda, ich kann nicht reden, ich bin überwältigt.« Wir gehen ins Pilgerbüro. Die laute Irin, der ich bei der Kapelle in Melide entflohen bin, steht schon da. Die Adresse einer Pension auf dem Zettel, den mir ein Mann beim Flughafen aus dem Auto gereicht hat - ich packe meine Sachen aus. Kaufe ein, gebe die Plastiktüten beim Pförtner des Saales ab, wo jetzt ein Konzert mit mittelalterlicher Pilgermusik beginnen wird. Die Franzosen aus Vega de Valcarce vor der Kathedrale, Heinz, ja Heinz aus St. Gallen sitzt auf der Treppe vor dem Seitenportal. Ich habe ihn kaum erkannt, ohne Hut und ohne Beutel in der linken Hand. Erlöst und erleichtert sieht er aus. Wir trinken zusammen ein Glas Wein in einer Bar. Die beiden Mädchen aus Waldshut, Helen und Bärbel, flanieren durch die Straßen, selbst der Landstreicher geht leicht und beschwingt. Dirk und Veronique aus Toulouse, zurzeit ein Paar. Altbekannte Gesichter, neue, warmherzige Augen. Julio aus Brasilien: »Als ich sah, wie meine beiden kleinen Brüder und mein Vater sich nach dem Camino verändert hatten, bin ich aufgebrochen.« Salvatore hockt neben mir auf einer Türschwelle, den Arm wärmend um meine Schultern gelegt. Wir hören einem Gitarrenspieler zu. Und in der Nacht eine neue Melodie, gewirkt aus Möwengeschrei und Kirchturmglocken.
     
     
    Sonntag, 3. August
     
    Am Sonntag die Pilgermesse in der Kathedrale. Die Kirche ist überfüllt. Nein, den Weihrauchkessel gibt es heute nicht, er wurde gestern schon geschwungen. Eine Nonne singt, die Orgel spielt. »Die Leute hätten
    Besseres verdient«, sagt Margret aus Washington neben mir. »Die Orgel auch«, sagt Amanda. Der Bischof begrüßt uns Pilger: »Wir danken euch, dass ihr gekommen seid.« Klar, fährt es mir durch den Kopf, wir bringen auch etwas mit. Dann zählt er die am Vortag angekommenen Pilger auf. »Una alemana de Somport.« - »Das bist du«, wispert Amanda, und ich bin stolz. Nun wird die Messe zelebriert, im goldenen Glanz des barocken Altaraufbaus, in dessen zentraler Höhe der Heilige Jakob Wache hält. Von hinten umarmt habe ich ihn gestern schon. Die Messe nimmt ihren Gang. Das Ritual berührt mich nicht, trotz des prächtigen Rahmens. Dafür bin ich nicht hierher gekommen, denke ich. Dann gehen die Menschen nach vorn, um die Hostie entgegenzunehmen. »Du bist Pilgerin, das gehört dazu«, flüstert Amanda. Ich stehe auf, reihe mich ein, gehe nach vorn. Wieder trage ich das weiße Pilgergewand, halte ich das Schwert, den Hut. Nun stehe ich an den Stufen des Altars, die Hostie in den Händen - da durchfährt mich das Wissen: Hier war ich schon einmal, Jahrhunderte ist es her. Und ich sehe mich - es ist dunkel, wenige Kerzen brennen in dem kargen Chorraum, kein Gold, keine Schnörkel, alles ist einfach und schlicht. Die Strapazen einer weiten Reise liegen hinter
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