Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In Santiago sehen wir uns wieder

In Santiago sehen wir uns wieder

Titel: In Santiago sehen wir uns wieder
Autoren: Brigitte Uhde-Stahl
Vom Netzwerk:
und alt, allein, zu zweit oder in Grüppchen - und alle mit e i n e m Ziel auf e i n e m Weg.
     

Casanova – Arzúa
    Donnerstag, 31. Juli
     
    Heute gehe ich leicht und frei und glücklich - so könnte ich bis in alle Ewigkeit gehen. »Stell dir vor, Amanda, wenn wir jetzt auf einem hohen Berg stünden, und die Luft wäre vollkommen klar - ob wir die Türme der Goldenen Stadt sehen würden?« Gehen, gehen, gehen. Amanda tippt mir auf die Schulter: »Was stand auf dem letzten Kilometerstein?« - »40 Kilometer.« - »Wahnsinn, nur noch 40 Kilometer, wie wenn du mit dem Bus von Tübingen nach Stuttgart fährst.« Gehen, gehen, gehen. Amanda: »Ich finde es ein bisschen dröge hier, immer bergauf, bergab, Eukalyptuswälder, Eichenwälder, Kastanienwälder und wieder Eukalyptus, Eichen und Kastanien. Ich dachte eigentlich, die letzten Tage seien spektakulärer.« - »Spektakulär ist, dass es mir trotzdem gut geht. Ein richtiges Wunder! Trotz des Verkehrs, der auf der Straße an uns vorbeijagt. Außerdem, ich bestehe darauf, Amanda, wir sind noch nicht angekommen.«
    Melide. Eine E-Mail-Nachricht von Sylvia: »Gestern in Santiago angekommen - überwältigend. Beeil dich, ich will dich am Ende der Welt in die Arme nehmen.« Und die Schwester: »Kommst du denn gar nicht mehr zurück? Ist denn alles, was dir lieb ist, nicht mehr wichtig?«
    Mittagspause am Ufer eines Bächleins. Rotschwänzchen singen beherzt in den Eschen, für die anderen Vögel hat die stumme Sommerzeit längst begonnen. Unendliches Wohlsein erfüllt mich. Langsam gehen, Pausen machen, das ist es. Sich auf das Lauschen konzentrieren - das Wasser rauscht mit dem Brummen der Lastwagen im Duett. Das Hören abschalten, nur schauen: Bewegung, vielfältig, vielseitig und gleichzeitig. Die Wellen, die vom Wind bewegten Zweige und Blätter, die dahinhuschenden Fahrzeuge jenseits der Hecke... »Erzähl mir von Leni«, bittet Amanda, »ich bin müde.« Dieser matte Ton in der Stimme neuerdings - »Amanda, du machst mir Sorgen«.
     
    Die Sonne war längst in den Nachmittag hinübergewandert und schien Leni ins Gesicht. Die Prinzessin ging und ging, immer ihrem Schatten voraus nach Westen. Sie spürte weder Müdigkeit noch Hunger. Der Weg führte steil bergauf in die luftige Höhe eines Gebirges. Plötzlich stand Leni vor einem tiefen Abgrund. »Hab keine Angst«, krächzte ein riesiger Vogel, der an der Felskante saß, »ich weiß, warum du hier bist. Ich kann dir helfen, aber erst, wenn du mir den Schmetterling mit den goldenen Flügeln gefangen hast.« Leni war ratlos: »Ich kann nicht fliegen!« In diesem Augenblick flatterte über dem Abgrund vor ihr ein Schmetterling mit goldenen Flügeln. »Hol mich, ich habe so lange auf dich gewartet«, rief der Schmetterling. Leni sprang, der Wind erfasste sie und - leicht wie ein Vogel flog sie durch die Lüfte. Sie erreichte den Falter, griff ihn, dann fiel sie, fiel und fiel und - wachte wie nach einem tiefen Schlaf im Schöße ihrer Patentante auf. Die Fee trug ein goldenes Gewand. »Hast du dich ausgeruht, mein Kind?« fragte sie. »Dein Weg ist noch nicht zu Ende.« Leni fühlte sich erquickt und richtete sich auf. Doch die Fee war verschwunden, und vor ihr im Gras lag ein Bruchstück des goldenen Bechers. Nun fehlt nur noch ein Stück, dachte die Prinzessin und freute sich.
     
    »Die Prinzessin hat es auch bald geschafft, Bella, wie wir.« - »Es ist schon spät, wir müssen uns beeilen, Amanda.« Tatsächlich, die Herberge in Ribadiso ist voll, in Arzúa gibt es nur noch ein Matratzenlager im ausgeräumten Speiseraum. Na denn.
     
    ❖
     
    Bei einem herrlichen Menü mit reichlich gutem Rotwein sitzt mir Lovisa aus Schweden gegenüber. Blaue Augen, leicht mandelförmig geschnitten, rotblondes Haar, zarte Sommersprossen sind über die Nase gestreut. Kaum ein Thema lassen wir aus. Alles interessiert uns gemeinsam. Die Zeit! Die Zeit in der Politik - gerade hat sie ihre Doktorarbeit beendet. Vom Alter her könnte sie meine Tochter sein, denke ich, aber laut sage ich zu meinem eigenen Erstaunen: »Lovisa - ich empfinde dich als Schwester. Eine solche Nähe, als hätten wir denselben Ursprung.« - »Mir geht es ähnlich, Bella.« Wärme steigt in mir auf. »Die leeren Becher meiner Einsamkeit füllen sich mit warmgoldenem Klang«, singt Amanda leise vor sich hin. »Mon dieu«, denke ich, »jetzt wird sie auch noch pathetisch.«
    Es dauert lange, bis Ruhe einkehrt. Mein nördlicher Nachbar röchelt mir ins Ohr. Es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher