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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen
Autoren: Jon Krakauer
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meinen Entschluß nicht, nicht zurückzukehren, denn ich weiß, daß die Menschen dort dem Untergang geweiht sind, ebenso wie die reichen, überheblichen Fremden, die von sich meinen, sie könnten die Welt erobern. Erinnert Euch an die Titanic. Selbst die Unsinkbare sank, und was sind schon dumme kleine Sterbliche wie Weathers, Pittman, Fischer, Lopsang, Tenzing, Messner oder Bonington im Angesicht der »Göttin Mutter«. Da dies nun einmal so ist, habe ich mir geschworen, niemals in meine Heimat zurückzukehren und mich an diesem Sakrileg zu beteiligen.
    Der Everest scheint das Leben vieler Menschen vergiftet zu haben. Beziehungen gingen in die Brüche. Die Frau eines der Opfer mußte wegen Depressionen in einer Klinik untergebracht werden. Als ich das letzte Mal mit einem bestimmten Teamgefährten sprach, war sein Leben völlig aus der Bahn geworfen. Er erzählte mir, daß der Streß, mit den Nachwirkungen der Expedition fertig zu werden, seine Ehe in Trümmer zu legen drohte. Zum Arbeiten fehle ihm die Konzentration, sagte er, und des öfteren mußte er sich Spott und Hohn irgendwelcher Fremden gefallen lassen.
    Bei ihrer Rückkehr nach Manhattan mußte Sandy Hill Pittman entdecken, daß sie für einen Großteil der öffentlichen Empörung über die Geschehnisse am Everest als Blitzableiter herhalten mußte. Die Zeitschrift
Vanity Fair
veröffentlichte in ihrer August-Ausgabe 1996 einen vernichtenden Artikel. Ein Kamerateam des Boulevard-Fernsehmagazins
Hard Copy
legte sich vor ihrer Wohnung auf die Lauer. Auf der Rückseite des
The New Yorker
bedachte der Schriftsteller Christopher Buckley sie mit einer scharfen Pointe über ihr Höhenlagen-Martyrium. Im Herbst hatte sich die Situation derartig zugespitzt, daß sie einer Freundin tränenüberströmt gestand, daß ihr Sohn auf seiner exklusiven Privatschule bespöttelt und wie ein Ausgestoßener behandelt wurde. Die mörderische Heftigkeit des kollektiven Zorns über die Everest-Geschehnisse – und die Tatsache, daß dieser Zorn sich vor allem gegen sie richtete – hatte Pittman völlig unvorbereitet erwischt und sie tief erschüttert.
    Was Neal Beidleman betrifft, so hatte er fünf Kunden das Leben gerettet, indem er sie den Berg hinunterführte; dennoch läßt ihn ein Tod, den er nicht verhindern konnte, nicht mehr los. Dabei gehörte jene Kundin nicht einmal seinem Team an; Beidleman war also strenggenommen nicht für sie verantwortlich.
    Nachdem Beidleman und ich uns an unsere heimatliche Scholle reakklimatisiert hatten, unterhielten wir uns ein wenig. Er schilderte mir, was er damals alles fühlte und dachte, draußen auf dem Südsattel, als er sich mit den anderen gegen den Wind zusammenkauerte und verzweifelt versuchte, alle am Leben zu halten. »Gleich als der Himmel soweit aufklarte, daß man zumindest ahnen konnte, wo das Lager war«, erzählte er, »war es wie: ›Hey, wenn wir noch lange warten, geht's mit dem Sturm bestimmt gleich wieder los, also MARSCH jetzt!‹ Ich habe alle angeschrien, um sie auf Trab zu bringen, aber es hat sich dann schnell herausgestellt, daß einige zu schwach waren, um zu gehen oder auch nur aufzustehen.
    Einige haben geweint. Ich habe jemanden schreien gehört: ›Laß mich hier nicht sterben!‹ Es war klar, daß es jetzt oder nie war. Ich versuche, Yasuko auf die Beine zu stellen. Sie greift meinen Arm, aber sie war zu schwach und schafft's nur bis zu den Knien. Ich gehe also los und ziehe sie ein, zwei Schritte hinter mir her, und dann läßt sie langsam los und fällt von mir ab. Ich muß weiter. Irgend jemand mußte es zu den Zelten schaffen und Hilfe holen, sonst wären wir alle gestorben.«
    Beidleman verfiel in kurzes Schweigen. »Aber ich muß immer wieder an Yasuko denken«, fuhr er schließlich fort, »sie war so klein. Ich spüre noch immer ihre Finger, wie sie über meine Muskeln am Oberarm gleiten und wie sie dann losgelassen hat. Ich habe mich nicht einmal nach ihr umgedreht.«
     

Nachbemerkung des Autors
    Mein Artikel in
Outside
hat einige der Leute, über die ich dort schrieb, verärgert und die Freunde und Verwandten mancher Everest-Opfer verletzt. Dies tut mir aufrichtig leid – ich wollte niemanden kränken. Meine Absicht war es vielmehr, mit dem Artikel, und mehr noch mit diesem Buch, so genau und wahr wie möglich darüber zu berichten, was auf dem Berg tatsächlich passiert ist, und zwar mit Gefühl und Achtung. Ich bin fest davon überzeugt, daß diese Geschichte erzählt werden muß, doch nicht
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