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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen
Autoren: Jon Krakauer
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Gipfel auf, O'Dowd und Woodall verließen 20 Minuten nach Mitternacht die Zelte, gemeinsam mit den Sherpas Pemba Tendi, Ang Dorje 41 und Janbu, die den Sauerstoff für sie trugen. Herrod hatte das Lager allem Anschein nach nur wenige Minuten nach der Hauptgruppe verlassen, fiel jedoch im Verlauf des Anstiegs immer weiter zurück. Am Samstag, dem 25. Mai, rief Woodall um 9 Uhr 50 über Funk Patrick Conroy, den Leiter des Basislagers, um zu melden, daß er mit Pemba auf dem Gipfel stünde und daß O'Dowd in 15 Minuten mit Ang Dorje und Jangbu ebenfalls die Spitze des Everest erreichen würde. Woodall sagte weiter, daß Herrod sich in unbekannter Entfernung weiter unten befinden würde.
    Herrod, dem ich mehrere Male auf dem Berg begegnet war, war ein liebenswürdiger Siebenunddreißigjähriger von der Statur eines Bären. Obwohl er über keinerlei Höhenlagen-Erfahrungen verfugte, war er ein fähiger Bergsteiger, der als Geophysiker achtzehn Monate in den Eiswüsten der Antarktis verbracht hatte – er war bei weitem der beste im südafrikanischen Team verbliebene Bergsteiger. Seit 1988 versuchte er sich als freischaffender Fotograf zu etablieren, und er hatte die Hoffnung, daß seine Karriere durch eine Gipfelbesteigung des Everest einen kräftigen Aufschwung nehmen würde.
    Als Woodall und O'Dowd längst auf dem Gipfel standen, war Herrod, wie sich später herausstellte, noch weit unten und kämpfte sich bedenklich langsam allein den Südostgrat hoch. Gegen 12 Uhr 30 kam er an Woodall, O'Dowd und den drei Sherpas auf ihrem Weg nach unten vorbei. Ang Dorje gab Herrod ein Funkgerät und beschrieb ihm die Stelle, wo man für ihn Sauerstoff hinterlegt hatte. Herrod kletterte weiter Richtung Bergspitze. Erst kurz nach 17 Uhr erreichte er den Gipfel, sieben Stunden nach den anderen; Woodall und O'Dowd waren zu jenem Zeitpunkt bereits wieder zurück in ihren Zelten auf dem Südsattel.
    Zufälligerweise rief im gleichen Moment, als Herrod dem Basislager über Funk meldete, daß er oben angekommen war, seine Freundin Susan Thompson über Satellitentelefon aus ihrer Wohnung in London an und sprach mit Conroy. »Als Patrick mir gesagt hat, daß Bruce auf dem Gipfel ist«, weiß Thompson noch, »hab ich gesagt: ›Scheiße! Er kann doch nicht so spät auf dem Gipfel sein – es ist Viertel nach fünf! Das gefällt mir nicht. ‹«
    Einen Augenblick später stellte Conroy sie zu Herrod auf dem Gipfel des Everest durch. »Bruce schien bei klarem Verstand«, berichtet sie. »Ihm war vollkommen klar, daß er sehr lange gebraucht hatte, um da hinaufzukommen, aber er klang so normal, wie man in solchen Höhenlagen nur klingen kann. Er hatte ja zum Sprechen seine Sauerstoffmaske abgenommen.
    Ich hatte auch nicht den Eindruck, daß er völlig aus der Puste ist.«
    Dennoch, Herrod hatte vom Südsattel bis zum Gipfel siebzehn Stunden gebraucht. Obwohl es nicht sonderlich windig war, verhüllten nun Wolken den Gipfelbereich, und die Dunkelheit rückte immer näher. Er war allein auf dem Dach der Welt, völlig erschöpft, und wahrscheinlich war ihm der Sauerstoff ausgegangen oder fast ausgegangen. »Daß er so spät noch da oben war, ganz allein, war schierer Wahnsinn«, sagt sein früherer Teamgefährte Andy de Klerk. » Das gibt's einfach nicht.«
    Herrod war zwischen dem 9. und 12. Mai auf dem Südsattel gewesen. Er hatte den tosenden Sturm zu spüren bekommen, die verzweifelt um Hilfe rufenden Funksprüche gehört, Beck Weathers erfrorenen, halbverkrüppelten Arm gesehen. Am Anfang seiner Besteigung vom 25. Mai war Herrod direkt an der Leiche Scott Fischers vorbeigeklettert, und ein paar Stunden danach mußte er am Südgipfel über Rob Halls leblose Beine gestiegen sein. Allem Anschein nach haben die Leichen Herrod jedoch nur wenig beeindrucken können, denn trotz seines langsamen Tempos und der vorgerückten Stunde stieß er weiter unbeirrt zum Gipfel vor.
    Herrod sollte sich nach seinem Funkruf um 17 Uhr 15 nicht mehr melden. »Wir haben mit eingeschaltetem Funkgerät im Camp Vier gesessen und auf ihn gewartet«, erklärte Cathy O'Dowd in einem Interview mit dem
Johannesburg Mail & Guardian.
»Wir waren total erschöpft und sind dann irgendwann eingeschlafen. Als ich gegen 5 Uhr aufgewacht bin, und er sich immer noch nicht gemeldet hatte, war mir klar, daß wir ihn verloren hatten.«
    Bruce Herrod wurde für tot erklärt, das zwölfte Opfer der Saison.
     

EPILOG
    Seattle
29. November 1996
80 Meter

Nun träume ich von der sanften
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