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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen
Autoren: Jon Krakauer
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sich selbst zu täuschen. Wem es gelingt, sich davon zu überzeugen, daß Rob Hall starb, weil er eine Reihe von Irrtümern beging und sich selbst für zu schlau hält, um die gleichen Irrtümer zu wiederholen, dem fällt es natürlich leichter, sich am Everest zu versuchen, und mögen auch noch so viele zwingende Beweise dagegen sprechen.
    Tatsächlich war das mörderische Ergebnis von 1996 in vielerlei Hinsicht schlicht und einfach »business as usual«. Auch wenn in der Frühjahrsklettersaison so viele Menschen ums Leben kamen wie noch nie, machten die zwölf Todesfälle nur drei Prozent der 398 Bergsteiger aus, die über das Basislager hinauskletterten – was sogar leicht unter der historischen Todesquote von drei Komma drei Prozent liegt. Oder anders ausgedrückt: Zwischen 1921 und Mai 1996 starben 144 Menschen, während der Berg sechshundertdreißigmal bestiegen wurde – ein Verhältnis von eins zu vier. Im vergangenen Frühjahr verloren zwölf Menschen ihr Leben, während vierundachtzig den Gipfel erreichten – ein Verhältnis von eins zu sieben. Verglichen mit diesen historischen Daten, schneidet 1996 genaugenommen als ein überdurchschnittlich sicheres Jahr ab.
    Um ehrlich zu sein, war eine Besteigung des Everest jedoch schon seit jeher ein extrem gefährliches Unterfangen und wird es zweifellos auch bleiben, egal, ob es sich nun um Himalaja-Neulinge handelt, die den Gipfel hinaufgeführt werden, oder um Weltklassebergsteiger, die mit ihresgleichen klettern. Vielleicht sollte man sich einmal vor Augen führen, daß der Berg, bevor er Fischer und Hall das Leben kostete, bereits eine ganze Garde von Elite-Bergsteigern ausgelöscht hatte, einschließlich Peter Boardman, Joe Tasker, Marty Hoey, Jake Breitenbach, Mike Burgh, Michel Parmentier, Roger Marshall, Ray Genet und George Leigh Mallory.
    Was die hochgeführte Bergsteigerspezies betrifft, wurde mir 1996 schnell klar, daß nur wenige Kunden auf dem Berg (mich eingeschlossen) sich wirklich bewußt waren, in welch ernsthafter Gefahr sie sich befanden – der seidene Faden, an dem das Leben in Höhen über 8000 Metern hängt. Selbsternannte Helden mit Everest-Flausen im Kopf sollten sich stets vergegenwärtigen, daß, wenn die Dinge hoch oben in der Todeszone einmal nicht so laufen wie vorgesehen – und früher oder später passiert genau dies –, auch die stärksten Bergführer machtlos sind, das Leben eines Kunden zu retten; genaugenommen sind, wie die Ereignisse von 1996 zeigten, die stärksten Bergführer nicht einmal mehr in der Lage, ihr eigenes Leben zu retten. Vier meiner Teamgefährten starben nicht etwa, weil Halls Taktik mangelhaft gewesen wäre – tatsächlich hatte niemand eine bessere –, sondern weil es auf dem Everest nur natürlich ist, daß Taktiken völlig in sich zusammenbrechen.
    Inmitten all der nachträglichen Erörterungen verliert man schnell die Tatsache aus den Augen, daß Bergsteigen niemals ein risikoloses, vorhersehbares, nach bestimmten Regeln ablaufendes Unterfangen sein wird. Wir haben es hier mit einer Tätigkeit zu tun, bei der das Eingehen von Risiken geradezu idealisiert wird. In dieser Sportart wurden schon immer diejenigen am meisten gefeiert, die Kopf und Kragen riskierten und dennoch davonkamen. Bergsteiger zeichneten sich noch nie durch einen Überschuß an gesundem Menschenverstand aus. Und dies gilt insbesondere für Everest-Bergsteiger: Wer die Chance erhält, den höchsten Punkt der Erde zu erreichen, neigt, wie die Geschichte uns lehrt, überraschend schnell dazu, objektive Gefahren zu übersehen. »Das, was diese Saison auf dem Everest passiert ist«, warnt Tom Hornbein dreiunddreißig Jahre nach seiner Besteigung über den Westgrat, »wird mit Sicherheit wieder passieren.«
    Um sich vor Augen zu führen, wie wenig aus den Fehlern des 10. Mai gelernt wurde, braucht man sich nur anzuschauen, was in den Wochen gleich danach auf dem Everest geschah.
    Am 17. Mai, zwei Tage nachdem Halls Team das Basislager Richtung Heimat verlassen hatte, kletterten drüben auf der tibetanischen Seite des Berges ein Österreicher namens Reinhard Wlasich und sein ungarischer Teamgefährte ohne zusätzlichen Sauerstoff. Sie kamen bis zu dem bei 8270 Metern gelegenen Hochlager, wo sie in einem der Zelte übernachteten, die von der so verhängnisvoll verlaufenen Ladakhi-Expedition zurückgelassen worden waren. Am Morgen darauf klagte Wlasich, daß er sich krank fühle; kurz darauf verlor er das Bewußtsein. Ein norwegischer Arzt,
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