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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person
Autoren: John Irving
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Sie bewundert – Sie hätten Eier, sagte
er. Sie haben etwas ›Inspirierendes‹ gemacht, jedenfalls erzählte er mir das.
Das hatte mit einer Transsexuellen zu tun, einer älteren Person, glaube ich.
Vielleicht kanntet ihr sie ja beide. Vielleicht hat mein Vater sie auch
bewundert – vielleicht hat sie ihn ja auch
inspiriert.«
    »Ich habe ein Foto Ihres Vaters gesehen, als er jünger war – bevor
er hierherkam«, sagte ich dem jungen Kittredge. »Darauf war er wie ein sehr
hübsches Mädchen gekleidet und geschminkt. Ich glaube, etwas begann, wie Sie es nennen, bevor er mich kennenlernte – und
alles andere danach. Ich könnte Ihnen das Foto zeigen, wenn Sie –«
    [716]  »Ich kenne diese Fotos – ich muss nicht noch eins sehen!«, sagte
Kittredges Sohn wütend. »Was ist mit der Transsexuellen? Wie habt ihr beide
meinen Vater inspiriert ?«
    »Mich überrascht zu hören, dass er mich ›bewundert‹ hat – ich kann
mir nicht vorstellen, dass ich irgendetwas getan habe, was er ›inspirierend‹
fand. Ich habe nie geglaubt, dass er mich auch nur mochte. Vielmehr war Ihr Vater immer ziemlich gemein zu mir«, sagte ich zu Kittredges
Sohn.
    »Was ist mit der Transsexuellen?«, wiederholte der junge Kittredge
seine Frage.
    »Ich kannte die Transsexuelle – Ihr Vater ist ihr nur ein Mal
begegnet. Ich war in die Transsexuelle verliebt. Was
mit der Transsexuellen war, passierte mir !«, rief
ich. »Ich weiß nicht, was mit Ihrem Vater passiert ist.«
    » Irgendwas ist hier passiert – so viel
weiß ich«, sagte der Sohn verbittert. »Mein Vater hat all Ihre Bücher gelesen,
wie besessen. Was hat er in Ihren Romanen gesucht? Ich habe sie gelesen – ich
habe meinen Vater nie darin gefunden, nicht dass ich ihn zwangsläufig darin
wiedererkannt hätte.«
    Da fiel mir mein Vater ein, und ich sagte – so sanft ich konnte – zu Kittredges aufgebrachtem Sohn: »Wir sind nun mal,
wer wir sind, nicht wahr? Ich kann Ihnen Ihren Vater nicht begreiflich machen,
aber gewiss können Sie doch etwas Mitgefühl für ihn
aufbringen, oder nicht?« (Nie hätte ich geglaubt, dass ich einmal jemanden um Mitgefühl für Kittredge bitten würde!)
    Früher war ich davon ausgegangen, wenn Kittredge [717]  schwul wäre,
dann bestimmt als Aktiver. Jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher. Als
Kittredge Miss Frost begegnet war, hatte ich gesehen, wie er innerhalb von zehn
Sekunden aus einer dominanten in eine unterwürfige Rolle schlüpfte.
    In diesem Moment kam Gee die Sitzreihe vor uns entlang auf uns zu.
Zweifellos hatten die Mitglieder meines Romeo-und-Julia -Ensembles
die erhobenen Stimmen gehört; bestimmt machten sie sich Sorgen. Garantiert
konnten sie hören, wie wütend der junge Kittredge war. Auf mich wirkte er nur
wie ein unreifes Spiegelbild seines Vaters.
    »Hi, Gee«, sagte ich. »Ist Manfred da? Sind wir so weit?«
    »Nein – immer noch kein Tybalt in Sicht«, sagte Gee. »Ich habe aber
eine Frage. Es geht um den ersten Aufzug, fünfte Szene – um meinen allerersten
Text, wenn die Amme mir sagt, dass Romeo ein Montague ist. Sie wissen schon,
als ich erfahre, dass ich mich in den Sohn meines Feindes verliebt habe – der
Zweizeiler.«
    »Was ist damit?«, fragte ich; ich merkte, dass sie für uns beide
Zeit schindete. Wir hofften beide, dass Manfred endlich kam. Wo war mein rasch
aufbrausender Tybalt, wenn ich ihn brauchte?
    »Ich glaube nicht, dass ich in Selbstmitleid zerfließen sollte«,
fuhr Gee fort. »Ich halte Julia nicht für wehleidig.«
    »Nein, ist sie nicht«, sagte ich. »Julia mag gelegentlich
fatalistisch klingen, aber auf keinen Fall wehleidig.«
    »Na schön – lassen Sie es mich vortragen«, sagte Gee. »Ich glaube,
ich hab’s jetzt – ich sag’s nur, wie es ist, beklage
mich aber nicht.«
    »Das ist meine Julia«, sagte ich zum jungen Kittredge. [718]  »Meine
Hauptdarstellerin, Gee. In Ordnung«, sagte ich zu Gee, »lass hören.«
    »›So einz’ge Lieb aus großem Hass entbrannt! / Ich sah zu früh, den
ich zu spät erkannt‹«, sagte meine Julia.
    »Besser geht’s nicht, Gee«, sagte ich ihr, doch der junge Kittredge
glotzte sie nur an; mir war nicht klar, ob er sie bewunderte oder einen
Verdacht hegte.
    » Gee, was für ein Name ist das denn?«,
wollte Kittredges Sohn von ihr wissen. Ich merkte, dass die Selbstsicherheit
meiner Hauptdarstellerin etwas erschüttert war; da war ein gutaussehender,
recht weltgewandt wirkender Mann – jemand, der nicht aus dem Favorite-River-Umfeld kam, wo
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