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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person
Autoren: John Irving
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letzten Schuljahr, aber er war auch Ringer, weshalb
ich ihn als den hitzigen Tybalt besetzt hatte – ein Verwandter der Capulets und
der Heißsporn, der in erster Linie für das verantwortlich ist, was in dem Stück
passiert. Ja doch, ich weiß, der langjährige Zwist zwischen den Montagues und
den Capulets führt letztlich zum Tod von Romeo und Julia, aber Tybalt ist der
Katalysator. (Hoffentlich hätten mir Herm Hoyt und Miss Frost verziehen, dass
ich meinen Katalysator mit einem Ringer besetzte.)
    Mein Tybalt war der am reifsten aussehende Junge auf der Favorite
River Academy – ein Ringer aus Deutschland, der seit vier Jahren in der
Schulmannschaft aktiv war. Manfred war Halbschwergewicht; sein Englisch war
korrekt, und er hatte eine sehr gute Aussprache, aber immer noch einen leichten
Akzent. Ich hatte Manfred aufgefordert, uns seinen Akzent in den Texten von Romeo und Julia zu Gehör zu bringen. Wie garstig von mir –
meinen Tybalt von einem Ringer mit deutschem Akzent spielen zu lassen. Doch
ehrlich gesagt, machte mir ein wenig Sorgen, wie sehr Manfred für Gee
schwärmte. (Und ich weiß, dass Gee ihn mochte.) Wenn es einen Jungen auf
Favorite River gab, der eventuell mutig genug war, mit Gee Montgomery zu gehen – das heißt, der sie auch nur um ein Date bitten würde –, so war es dieser Junge, der schon ganz wie
ein Mann aussah, mein heißblütiger Tybalt.
    Vor diesem Mittwoch hatten wir unsere Arbeit am Text [708]  von Romeo und Julia beendet, jetzt ging es an die
Feinjustierung. Unsere Probe fand später statt als sonst; ausnahmsweise begann
sie erst um acht – weil Manfred in der Vorsaison noch irgendwo in Massachusetts
an einem Ringerwettkampf teilnahm.
    Dennoch tauchte ich an jenem Mittwochabend zu unserer gewohnten
Probenzeit im Theater auf, zwischen Viertel vor sieben und sieben, und wie ich
erwartet hatte, kamen auch die meisten Mitwirkenden schon früh. Um zwanzig Uhr
warteten wir alle auf Manfred, meinen höchst
streitbaren Tybalt.
    Ich führte gerade ein politisches Gespräch mit meinem Benvolio,
einem der schwulen Jungs. Er war sehr aktiv in der LGBTQ -Gruppe
auf dem Campus, und wir unterhielten uns über die Wahl des neuen Gouverneurs
von Vermont, eines Demokraten – »unser Schwulenrechtler und Gouverneur«, wie
ihn mein Benvolio nannte.
    Da unterbrach er sich mitten im Satz und sagte: »Hatte ich ganz
vergessen, Mr. A. Da sucht einer nach Ihnen. Er war im Speisesaal und hat nach
Ihnen gefragt.«
    Ich war am selben Abend sogar im Speisesaal gewesen, um rasch einen
Happen zu essen, und schon da hatte mir jemand (eine junge Englischlehrerin,
die – zum Glück nur äußerlich – Amanda glich) gesagt, ein Mann hätte sich nach
mir erkundigt.
    »Wie alt ist der Typ?«, hatte ich meine junge Kollegin gefragt. »Wie
sah er aus?«
    »Mein Alter, kaum älter – gut sah er aus«, antwortete sie mir. Ich
schätzte diese junge Englischlehrerin auf Anfang, höchstens Mitte dreißig.
    [709]  »Auf wie alt schätzt du den Mann?«, fragte ich meinen jungen
Benvolio. »Wie sah er aus?«
    » Ende dreißig vielleicht«, antwortete mein
Benvolio. » Sehr gutaussehend – scharf, wenn Sie mich fragen«, sagte der schwule Junge lächelnd. (Ein
ausgezeichneter Benvolio zu meinem kuhäugigen Romeo, dachte ich.)
    Mein Ensemble fand sich in der Black Box ein – einige allein, manche
in Zweier- oder Dreiergrüppchen. Falls Manfred doch schon früher von seinem
Ringerwettkampf zurück gewesen wäre, hätten wir jetzt mit der Probe beginnen
können; die meisten jungen Leute hatten noch Hausaufgaben zu erledigen – auf
sie wartete eine lange Nacht.
    Da kamen meine Geistlichen, mein Bruder Markus und mein Bruder
Lorenzo, und mein beflissen klingender Apotheker. Hier kamen meine
Plaudertaschen – zwei Elftklässlerinnen, meine Gräfin Montague und meine Gräfin
Capulet. Und da war auch mein langbeiniger Mercutio, der sehr talentiert war,
obschon er erst in die zehnte Klasse ging. Er besaß den für den liebenswerten,
aber todgeweihten Mercutio erforderlichen Charme und die nötige Verwegenheit.
    In die Black Box drängten sich, last but not
least, diverse Bürger, Masken, Wachen, mein Knabe mit Trommel (ein
winziger Neuntklässler, der einen Zwerg hätte spielen können), diverses Gefolge
(darunter Tybalts Page), allerlei Herren und Damen – und mein Graf Paris, mein
Prinz Escalus und die anderen. Meine Amme kam am Ende, sie schob meinen
Balthasar und meinen Petruchio vor sich her. Julias Amme war ein
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