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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person
Autoren: John Irving
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sie
umgekehrt auch nicht mehr zu lieben glaubte, konnte ich endlich um sie trauern – so wie wir um unsere Eltern trauern sollten, wenn sie nicht mehr sind.
    Am Tag meines Einzugs in das Haus an der River Street hatte
plötzlich Onkel Bob neben einem Bücherkarton im Flur des Erdgeschosses
gestanden. Tante Muriel habe gewollt, dass ich diese »Monumente der
Weltliteratur« bekam, versuchte Bob zu erklären – doch hatte diese Bücher
natürlich nicht Muriels Geist gebracht, sondern Onkel Bob. Mit etlichen Jahren
Verspätung hatte er diese mir von Muriel zugedachten Bücher entdeckt, die sie mir
aufgrund des tödlichen Autounfalls dann nicht mehr übergeben [702]  konnte. Onkel
Bob war immer achtlos an dem Karton vorbeigelaufen, in dem sich im Übrigen noch
ein Zettel befand, den Bob (ebenfalls mit etlichen Jahren Verspätung) las.
    »Diese Bücher sind von deinen Vorvätern, Billy«, hatte seine Frau in
ihrer unverwechselbaren Handschrift geschrieben. »Du bist der Schriftsteller in
der Familie und solltest sie bekommen.«
    »Leider weiß ich nicht, wann sie dir die
Bücher geben wollte, Billy«, sagte Bob verlegen.
    Das Wort Vorväter ist bemerkenswert.
Zuerst fühlte ich mich durch die Gesellschaft der angesehenen Schriftsteller
geschmeichelt, die Muriel für mich ausgewählt hatte; es war eine
hochliterarische Sammlung von Werken. Es gab zwei Stücke von García Lorca – Bluthochzeit und Bernarda Albas Haus. (Ich hatte nicht geahnt, dass Muriel wusste, wie sehr ich Lorca schätzte – auch
seine Gedichte.) Es gab drei Theaterstücke von Tennessee Williams; vielleicht
hatte Nils Borkman diese Stücke Muriel gegeben, dachte ich zuerst. Es gab einen
Gedichtband von W. H. Auden und Gedichte von Walt Whitman und Lord Byron. Da
waren die einzigartigen Romane von Herman Melville und E. M. Forster – ich
meine Moby Dick und Wiedersehen in
Howards End. Da war Der Weg zu Swann von
Marcel Proust. Doch ich begriff immer noch nicht, warum meine Tante Muriel
ausgerechnet diese Schriftsteller gesammelt und sie meine »Vorväter« genannt
hatte – oder vielmehr erst, als ich am Boden der Kiste zwei
nebeneinanderliegende schmale Bände ausgrub: Arthur Rimbauds Eine Zeit in der Hölle und James Baldwins Giovannis Zimmer.
    [703]  »Oh!«, sagte ich zu Onkel Bob. Meine schwulen Vorväter, hatte Tante Muriel bestimmt gedacht – meine
Nicht-besonders-hetero-Brüder, wie ich jetzt vermutete.
    »Ich glaube, das war von deiner Tante positiv gemeint, Billy«, sagte Onkel Bob.
    »Glaubst du wirklich?«, fragte ich Tennisarm-Bob. Wir standen beide
im Flur des Erdgeschosses und versuchten uns vorzustellen, wie Muriel mir diese
Bücher mit positiven Hintergedanken in den Karton
packte.
    Gerry erzählte ich nie von dem Geschenk ihrer Mutter, denn ich
befürchtete, dass Muriel Gerry nichts, oder Schlimmeres, hinterlassen hatte.
Ich fragte Elaine nicht, ob sie glaubte, dieses
Büchergeschenk sei von Muriel positiv gemeint
gewesen. (Elaine war der festen Ansicht, meine Tante sei als bedrohlicher Geist geboren worden.)
    Elaines Anruf – eines späten Abends in meinem Haus an der River
Street – erinnerte mich an Esmeralda, die nach den vielen Jahren aus meinem
Gedächtnis (aber nicht aus meinem Kopf) verschwunden war. Elaine weinte am
Telefon; wieder hatte ein schlechter fester Freund sie verlassen, doch dieser
hatte gemeine Bemerkungen über ihre Vagina gemacht. (Ich hatte Elaine nie von
meiner unseligen Einschätzung berichtet, Esmeraldas Vagina sei kein Ballsaal –
o Mann, jetzt war jedenfalls nicht der Moment, um
Elaine diese Geschichte zu erzählen!)
    »Du erzählst mir immer, wie sehr du meine kleinen Brüste magst,
Billy«, sagte Elaine zwischen Schluchzern, »aber du hast nie ein Wort über
meine Vagina verloren.«
    »Ich mag deine Vagina!«, versicherte ich
ihr.
    »Das sagst du nicht nur so, oder, Billy?«
    [704]  »Nein! Ich finde deine Vagina perfekt !«,
sagte ich ihr.
    »Weshalb?«, fragte Elaine; sie hatte aufgehört zu weinen.
    Ich war wild entschlossen, bei meiner liebsten Freundin nicht den
Esmeralda-Fehler zu begehen. »Je nun –«, begann ich und hielt inne. »Ich will
absolut ehrlich zu dir sein, Elaine. Manche Vaginas fühlen sich an, als wären
sie so groß wie Ballsäle, wohingegen sich deine Vagina genau richtig anfühlt. Sie hat die perfekte Größe – jedenfalls für mich
perfekt«, sagte ich möglichst beiläufig.
    »Kein Ballsaal – willst du das damit sagen, Billy?«
    Wie bin ich bloß da wieder
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