Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
reingeraten?, dachte ich. »Kein Ballsaal – und das meine ich positiv !«, rief ich.
    Elaines Weitsichtigkeit war Vergangenheit; sie hatte eine LASIK -Operation machen lassen – danach kam es ihr so
vor, als sähe sie zum ersten Mal. Vor der Operation hatte sie beim Sex immer
die Brille abgenommen – nie hatte sie sich einen Penis richtig gut angesehen.
Jetzt konnte sie Penisse einwandfrei sehen; sie mochte den Anblick von manchen
nicht – »der meisten «, wie sie sagte. Mir erzählte
sie, wenn wir das nächste Mal zusammen wären, wollte sie sich meinen Penis genau ansehen. Ich fand es ein wenig tragisch,
dass Elaine keinen anderen Mann gut genug kannte, um seinen Penis zu
betrachten, aber wozu hat man Freunde?
    »Meine Vagina ist also ›kein Ballsaal‹, was positiv gemeint ist?«, sagte Elaine gerade am Telefon. »Tja, das klingt akzeptabel. Ich
kann kaum erwarten, mir deinen Penis genauer anzusehen, Billy – und ich weiß,
wenn ich das mache, wirst du das positiv auffassen.«
    »Ich kann es auch nicht erwarten«, sagte ich ihr.
    [705]  »Vergiss nur nicht, wer für dich die perfekte Größe hat, Billy«, sagte Elaine.
    »Ich liebe dich, Elaine«, sagte ich ihr.
    »Ich liebe dich auch, Billy«, sagte Elaine.
    Damit wurde mein »Kein-Ballsaal«-Fauxpas zu den Akten gelegt – damit
verschwand zumindest dieses Gespenst –, und meine schlimmsten Erinnerungen an
Esmeralda (an diesen schrecklichen Engel) vergingen.
    Die dritte Novemberwoche 2010 werde ich mein Lebtag nicht
vergessen. Ich hatte mit Romeo und Julia alle Hände
voll zu tun. Ich hatte ein phantastisches Ensemble aus jungen Leuten und (wie
Sie wissen) eine Julia mit Eiern, wie sie sich ein Regisseur nur wünschen kann.
    Die Bühnenmäuse störten hauptsächlich die wenigen Darsteller innen – nämlich meine Gräfin Montague, meine Gräfin Capulet
und meine Amme. Was meine Julia betraf, so kreischte Gee nicht, als die
Bühnenmäuse herumhuschten; Gee versuchte, die lästigen kleinen Nager zu
zertreten. Gee und mein blutrünstiger Tybalt hatten zwar schon einige
Bühnenmäuse totgetreten, aber mein Mercurio und mein Romeo waren in meinem
Ensemble die Experten im Aufstellen von Mausefallen. Vor jeder Aufführung
musste ich sie daran erinnern, die Mausefallen zu deaktivieren. Ich wollte
vermeiden, dass dieses grässliche Schnappgeräusch – oder das gelegentliche
Todesquieken einer Bühnenmaus – unser Romeo und Julia störte.
    Mein Romeo war ein kuhäugiger Knabe von rein konventioneller
Schönheit, der aber ausnehmend gut artikulierte. Er konnte die (äußerst
wichtige) Stelle aus dem 1. Aufzug, [706]  1. Szene so aufsagen, dass ihn das
Publikum auch wirklich hörte. »Nun dann: liebreicher Hass! streitsücht’ge
Liebe!« – diese Stelle.
    Für Gee zählte außerdem, dass – wie sie mir sagte – mein Romeo nicht
ihr Typ war. »Ich hab aber nichts dagegen, ihn zu küssen«, fügte sie hinzu.
    Glücklicherweise hatte mein Romeo nichts dagegen, Gee zu küssen –
obwohl jeder auf der Schule wusste, dass Gee Eier hatte (und einen Penis). Auf
Favorite River hätte ein Junge mutig sein müssen, um mit Gee zu gehen; dazu kam es nicht. Gee hatte immer in einem
Wohnheim für Schüler innen gewohnt; trotz Eiern und
einem Penis hätte Gee die Mädchen nie behelligt, und das wussten die. Sie
hatten Gee auch kein einziges Mal behelligt.
    Gee in ein Wohnheim für Jungs zu stecken, hätte zu Problemen führen
können; Gee mochte Jungs, doch weil Gee ein Junge war, der gerade im Begriff
war, ein Mädchen zu werden, hätten einige Jungs sie garantiert behelligt.
    Niemand (und ich am allerwenigsten) hätte gedacht, dass aus Gee eine
so hübsche junge Frau werden würde. Zweifellos gab es auf der Favorite River
Academy Jungen, die sich heftig in sie verknallt hatten – Heterojungs (denn Gee
war ausgesprochen ansehnlich) und schwule Jungs, die auf Gee abfuhren, weil sie Eier und einen Penis hatte.
    Richard Abbott und ich fuhren Gee abwechselnd in die Einrichtung für
betreutes Wohnen, wo sie Martha besuchte. Mit neunzig war Mrs. Hadley für Gee
eine Art weise Großmutter; Martha empfahl Gee, auf Favorite River die Finger
von Jungs zu lassen. »Spar dir die Dates für deine Studienzeit auf«, hatte Mrs.
Hadley ihr geraten.
    [707]  »Genau das mache ich – ich warte mit den Dates«, hatte ihr Gee
Montgomery geantwortet. »Die Jungs auf Favorite River sind mir sowieso alle zu
unreif.«
    Ein Junge kam mir (zumindest körperlich) sehr reif vor. Er war wie Gee im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher