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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person
Autoren: John Irving
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Chor«, sagte ich. »Tragt den Prolog ein paarmal vor.
Achtet darauf, dass die wichtigste Zeile mit einem Semikolon, nicht mit einem
Komma endet; achtet auf das Semikolon. ›Von einem Unstern verfolgt, wählt ein
Liebespaar den Tod‹; macht bitte nach dem Semikolon eine Pause. «
    [713]  »Wir sind hier, falls Sie uns brauchen, Mr. A.«, hörte ich Gee sagen,
als ich einen Gang hinauf in die vierte oder fünfte Sitzreihe des
schwachbeleuchteten Zuschauerraums schritt.
    »He, Lehrer «, hörte ich den Mann sagen,
vielleicht einen Sekundenbruchteil bevor ich ihn deutlich sehen konnte. Genauso
gut hätte er »He, Nymphe «, sagen können, so vertraut
war mir seine Stimme, fast fünfzig Jahre nachdem ich sie zuletzt gehört hatte.
Sein hübsches Gesicht, seine Ringerstatur, sein verschlagen-selbstsicheres
Grinsen – alles war mir vertraut.
    Aber du bist doch tot !, dachte ich – nur
ob er eines natürlichen Todes gestorben war, stand noch nicht fest.
Gleichzeitig war mir klar, dass dieser Kittredge
nicht mein Kittredge sein konnte. Dieser Kittredge
war höchstens gut halb so alt wie ich; wäre er in den frühen Siebzigern
geboren, was ich bei Kittredges Sohn annahm, wäre er jetzt Ende dreißig – 37
oder 38, hätte ich vermutet, als ich Kittredges einziges Kind kennenlernte.
    »Es ist wirklich verblüffend, wie sehr Sie Ihrem Vater ähneln«,
sagte ich zu dem jungen Kittredge und streckte ihm meine Hand hin; er nahm sie
nicht. »Nun, ich meine natürlich, falls ich Ihren Vater in Ihrem Alter gekannt
hätte – Sie sehen aus, wie ich mir vorstelle, dass er
mit Ende dreißig ausgesehen hätte.«
    »Mein Vater sah überhaupt nicht aus wie ich, als er in meinem Alter
war«, widersprach der junge Mann. »Bei meiner Geburt war er schon Anfang
dreißig; als ich alt genug war, um mich erinnern zu können, wie er aussah, sah
er schon wie eine Frau aus. Zwar hatte er die geschlechtsan [714]  gleichende
Operation noch nicht hinter sich, war aber bereits eine recht ansehnliche Frau.
Ich hatte keinen Vater. Ich hatte zwei Mütter – die
eine war fast ständig hysterisch, und die andere hatte einen Penis. So wie ich
das verstanden habe, hatte er nach der Operation eine Art Vagina. Er ist an
Aids gestorben – Sie aber erstaunlicherweise nicht, wie ich sehe. Ich habe alle Ihre Romane gelesen«, fügte der junge Kittredge
hinzu, als liefe für ihn alles in meinen Büchern darauf hinaus, dass ich
unschwer an Aids hätte sterben können – oder hätte sterben sollen.
    »Tut mir leid.« Mehr konnte ich darauf nicht erwidern. Wie Gee
gesagt hatte, war er aufgebracht. Wie ich selbst bemerkte, war er wütend. Ich
versuchte es mit Smalltalk. Ich fragte ihn, womit sein Dad seinen
Lebensunterhalt verdient hatte und wie Kittredge seine Frau Irmgard
kennengelernt hatte – die Mutter dieses aufgebrachten jungen Mannes.
    Sie hatten sich beim Skifahren kennengelernt – in Davos, vielleicht
auch in Klosters. Kittredges Frau war Schweizerin, hieß aber nach ihrer deutschen
Großmutter Irmgard. Kittredge und Irmgard wohnten
abwechselnd in ihrem Chalet im Engadin und in Zürich, wo sie beide am
Schauspielhaus beschäftigt waren. (Ein ziemlich berühmtes Theater.) Ich stellte
mir vor, dass Kittredge gern in Europa gelebt hatte; schließlich war er es ja
gewohnt, wegen seiner Mutter. Und vielleicht ließ sich eine
geschlechtsangleichende Operation in Europa einfacher bewerkstelligen – ich
wusste es wirklich nicht.
    Mrs. Kittredge – damit meine ich die Mom, nicht die Ehefrau – hatte sich kurz nach Kittredges Tod das Leben [715]  genommen. (Kein
Zweifel, sie war seine leibliche Mutter gewesen.) »Tabletten«, mehr sagte der
Enkel dazu nicht; er hatte offensichtlich nichts anderes im Sinn, als mit mir
darüber zu reden, dass sein Vater sich zu einer Frau hatte umwandeln lassen.
Allmählich beschlich mich das Gefühl, dass der junge Kittredge glaubte, ich
hätte etwas mit dieser für ihn widerwärtigen Veränderung zu schaffen.
    »Wie war sein Deutsch?«, fragte ich Kittredges Sohn, doch das war
dem aufgebrachten jungen Mann ohnehin egal.
    »Sein Deutsch war passabel – nicht so passabel, wie er als Frau war. Er machte keine Anstrengungen, sein Deutsch zu
verbessern«, erzählte mir Kittredges Sohn. »Mein Vater arbeitete an nichts so
intensiv wie daran, eine Frau zu werden.«
    »Oh!«
    »Als er im Sterben lag, erzählte er mir, etwas sei hier passiert –
als Sie ihn kannten«, sagte mir Kittredges Sohn. »Irgendetwas begann hier. Er hat
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