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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad
Autoren: Stephen King
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heraus.

2
     
    Auf dem Heimweg von der Schule am Nachmittag vor der planmäßigen Eröffnung von Needful Things fuhr Brian fast überhaupt nicht auf seinem Fahrrad; er war in einen intensiven Tagtraum versunken (der nicht über seine Lippen gekommen wäre, selbst wenn man ihn mit glühenden Kohlen oder giftigen Taranteln gefoltert hätte), in dem er Miss Ratcliffe gefragt hatte, ob sie mit ihm zur Castle County Fair gehen würde, und sie zugesagt hatte.
    »Danke, Brian,«, sagt Miss Ratcliffe, und Brian sieht kleine Tränen der Dankbarkeit in den Winkeln ihrer blauen Augen – Augen von so dunkler Farbe, daß sie fast gewittrig aussahen. »Ich bin – in letzter Zeit sehr traurig. Ich habe nämlich meinen Liebsten verloren.«
    »Ich werde Ihnen helfen, ihn zu vergessen«, sagt Brian, und seine Stimme ist gleichzeitig rauh und zärtlich, »wenn Sie mich – Bri nennen.«
    »Danke«, flüstert sie, und dann, wobei sie sich so weit vorbeugt, daß er ihr Parfum riechen kann – einen traumhaften Wildblumenduft – sagt sie: »Danke – Bri. Und da wir, zumindest heute abend, Mädchen und Junge sein werden anstatt Lehrerin und Schüler, darfst du mich – Sally nennen.«
    Er ergreift ihre Hände. Schaut ihr in die Augen. »Ich bin nicht einfach irgendein Junge«, sagt er. »Ich kann Ihnen helfen, ihn zu vergessen – Sally.«
    Sie scheint fast hypnotisiert zu sein von seinem unerwarteten Verständnis, seiner unerwarteten Männlichkeit; er mag zwar erst elf sein, denkt sie, aber in ihm steckt mehr von einem Mann, als in Lester je gesteckt hat! Ihre Hände umfassen die seinen fester. Ihre Gesichter kommen sich näher – näher...
    »Nein«, murmelt sie, und jetzt sind ihre Augen so groß und so nahe, daß er beinahe das Gefühl hat, in ihnen zu ertrinken, »nein, das darfst du nicht, Bri – es ist nicht recht...«
    »Es ist recht, Baby«, sagt er, und er drückt seine Lippen auf die ihren.
    Nach ein paar Augenblicken löst sie sich von ihm und flüstert zärtlich...
    »He, Junge, paß gefälligst auf, wo du hintrampelst!«
    Aus seinem Tagtraum herausgerissen, stellte Brian fest, daß er gerade vor Hugh Priests Pickup-Laster gewandert war.
    »Entschuldigung, Mr. Priest«, sagte er, wobei er heftig errötete. Mit Hugh Priest war nicht gut Kirschen essen. Er war beim Amt für Öffentliche Arbeiten angestellt und hatte, wie es hieß, das hitzigste Temperament in ganz Castle Rock. Brian beobachtete ihn genau. Wenn er Anstalten machen sollte, aus seinem Laster auszusteigen, gedachte Brian auf sein Fahrrad zu springen und ungefähr mit Lichtgeschwindigkeit die Main Street hinunterzufahren. Er hatte nicht die Absicht, die nächsten Wochen im Krankenhaus zu verbringen, nur weil er davon geträumt hatte, mit Miss Ratcliffe zur Country Fair zu gehen.
    Aber Hugh Priest hatte eine Flasche Bier zwischen den Schenkeln, im Radio sang Hank Williams jr. »High and Pressurized«, und das alles war ein bißchen zu erfreulich für eine so drastische Maßnahme wie die, an einem Dienstagnachmittag einen kleinen Jungen zusammenzuschlagen.
    »Du solltest die Augen offenhalten«, sagte er, setzte die Flasche an, trank einen Schluck und starrte Brian tückisch an, »denn das nächstemal mache ich mir nicht die Mühe, anzuhalten. Dann fahre ich dich einfach über den Haufen. Da kannst du lange winseln, Bürschchen.«
    Er legte den Gang ein und fuhr davon. Brian verspürte den verrückten (und gnädigerweise flüchtigen) Drang, ihm Das ist doch nicht zu fassen! nachzuschreien. Er wartete, bis der orangerote Laster in die Linden Street abgebogen war, dann setzte er seinen Weg fort. Der Tagtraum von Miss Ratcliffe war leider für heute verdorben. Hugh Priest hatte Brian in die Wirklichkeit zurückgeholt. Miss Ratcliffe hatte sich nicht mit ihrem Verlobten Lester Pratt gestritten; sie trug nach wie vor ihren Verlobungsring mit dem kleinen Brillanten und fuhr nach wie vor seinen blauen Mustang, während sie darauf wartete, daß ihr eigener Wagen aus der Werkstatt zurückkam.
    Brian hatte Miss Ratcliffe und Mr. Pratt erst am Vorabend gesehen, als sie zusammen mit einem Haufen anderer Leute auf der Lower Main Street die WÜRFEL-UND-DER-TEUFEL-Anschläge an die Telegraphenmasten klebten. Sie hatten Hymnen gesungen. Die Sache war nur, daß die Katholiken auftauchten, sobald sie fertig waren, und die Zettel wieder abrissen. In gewisser Hinsicht war das ziemlich lustig – aber wenn er größer gewesen wäre, hätte Brian alles getan, was in seinen Kräften
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