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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad
Autoren: Stephen King
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stand, um Zettel welcher Art auch immer zu beschützen, die Miss Ratcliffe mit ihren geheiligten Händen angeklebt hatte.
    Brian dachte an ihre tiefblauen Augen, ihre langen Tänzerinnenbeine, und verspürte das dumpfe Erstaunen, das ihn immer überkam, wenn ihm bewußt wurde, daß im Januar aus Sally Ratcliffe, was herrlich klang, Sally Pratt werden würde, was sich für Brian anhörte, als stürzte eine dicke Frau eine kurze, harte Treppe hinunter.
    Nun, dachte er, während er auf die andere Straßenseite überwechselte und dann langsam die Main Street hinunterging, vielleicht überlegt sie es sich noch anders. Unmöglich ist das nicht. Vielleicht hat Lester Pratt auch einen Autounfall, oder er bekommt einen Gehirntumor oder etwas dergleichen. Vielleicht stellt sich sogar heraus, daß er rauschgiftsüchtig ist. Miss Ratcliffe würde niemals einen Süchtigen heiraten.
    Gedanken dieser Art spendeten Brian eine bizarre Art von Trost, aber sie änderten nichts an der Tatsache, daß Hugh Priest den Tagtraum kurz vor seinem Höhepunkt zerstört hatte (wo er Miss Ratcliffe küßte und sogar ihre rechte Brust berührte, während sie sich auf dem Rummelplatz im Liebestunnel befanden). Es war ohnehin ein ziemlich absurder Gedanke gewesen, daß ein elfjähriger Junge mit seiner Lehrerin einen Jahrmarkt besuchte. Miss Ratcliffe war hübsch, aber sie war auch alt. Sie hatte in der Sprechtherapie einmal erwähnt, daß sie im November vierundzwanzig würde.
    Also legte Brian seinen Tagtraum vorsichtig an den Faltstellen zusammen, ungefähr so, wie ein Mann ein oft gelesenes, hochgeschätztes Dokument vorsichtig zusammenlegt, und verstaute ihn wieder auf dem Bord im Hintergrund seines Bewußtseins, auf das er gehörte. Er schickte sich an, auf sein Fahrrad zu steigen und den Rest des Heimwegs fahrend zurückzulegen.
    Doch genau in diesem Moment passierte er den neuen Laden, und sein Blick fiel auf das Schild an der Tür. Etwas daran hatte sich geändert. Er hielt sein Fahrrad an und betrachtete es.
    Das Schild mit den Zeilen
    GALA-ERÖFFNUNG 9. OKTOBER
BRINGEN SIE IHRE FREUNDE MIT!
war verschwunden. An seine Stelle war ein kleines, quadratisches Schild getreten, rote Buchstaben auf weißem Untergrund.
    GEÖFFNET
stand darauf, und
    GEÖFFNET
war alles, was darauf stand. Brian stand da, das Fahrrad zwischen den Beinen, betrachtete es, und sein Herz begann, ein wenig schneller zu schlagen.
    Du willst doch nicht etwa hineingehen? fragte er sich. Ich meine, selbst wenn der Laden wirklich einen Tag früher aufgemacht hat, willst du doch nicht wirklich hineingehen, stimmt’s
    Warum nicht? gab er sich selbst die Antwort.
    Nun – weil das Schaufenster nach wie vor zugekalkt ist. Die Jalousie an der Tür ist immer noch heruntergezogen. Wenn du da hineingehst, kann alles mögliche passieren. Alles mögliche.
    Klar. Zum Beispiel, daß der Typ, dem der Laden gehört, Norman Bates ist oder sonst jemand, der die Kleider seiner Mutter anzieht und seine Kunden ersticht.
    Vergiß es, sagte der ängstliche Teil seines Verstandes, doch dieser Teil hörte sich an, als wüßte er bereits, daß er verloren hatte. Irgend etwas daran ist unheimlich.
    Aber dann dachte Brian daran, wie er seiner Mutter davon erzählen würde. Er würde ganz lässig sagen: »Übrigens, Mom, du weißt doch, dieser neue Laden, Needful Things. Ja, er hat einen Tag früher aufgemacht. Ich war drin und habe mich umgesehen.«
    Daraufhin würde sie blitzschnell mit der Fernbedienung den Ton ausschalten, das war so sicher wie das Amen in der Kirche! Sie würde alles darüber hören wollen!
    Diesem Gedanken konnte Brian nicht widerstehen. Er stellte sein Fahrrad auf den Ständer, trat in den Schatten der Markise – unter ihrem Baldachin schien es mindestens fünf Grad kühler zu sein – und näherte sich der Tür von Needful Things.
    Als er die Hand auf den großen, altertümlichen Messing-Türknauf legte, kam ihm der Gedanke, daß das Schild ein Irrtum sein mußte. Wahrscheinlich hatte es direkt hinter der Tür gelegen, für morgen, und jemand hatte es aus Versehen aufgehängt. Er hörte kein einziges Geräusch hinter der heruntergezogenen Jalousie; der Laden machte einen verlassenen Eindruck.
    Aber nachdem er nun schon einmal so weit gekommen war, probierte er den Knauf – und er drehte sich ganz leicht unter seiner Hand. Der Riegel klickte zurück, und die Tür von Needful Things schwang auf.

3
     
    Drinnen war es düster, aber nicht dunkel. Brian sah, daß Lichtschienen
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