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In einer Familie

In einer Familie

Titel: In einer Familie
Autoren: Heinrich Mann
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Wel kamp erkannte
    nun die Vorherbestimmung, die ihn genau auf dem
    Wege geleitet hatte, den er genommen, da er auf kei-
    nem andern das Ziel hätte erreichen, der Mensch
    werden können, der er heute war oder der er werden
    sollte. Er fragte sich mit einer mystischen Angst:
    wie, wenn er zum Beispiel an jenem Punkte, als das
    schuldige Einverständnis bereits vorhanden, und die
    thatsächliche Ausführung nur noch die Frage von
    Tagen war, das Werdende abgebrochen hätte? Wenn
    er in der Folge jenes Weihnachtsabends zu dem Vor-
    satze, ohne Zögern abzureisen, die Kraft gefunden
    hätte? Und er antwortete, daß dies ebenso unmög-
    lich gewesen sei, wie ein Zusammentreffen mit Dora
    überhaupt zu verhindern, die ihm vom Schicksal in
    den Weg geführt war. Er hatte alle Stationen dieser
    Leidenschaft durchwandeln müssen, von höchster
    Extase zu tiefster Erniedrigung, weil er nur so von
    seiner Jugend erlöst werden konnte. Wie hatte er, als
    er in der Ehe von neuem zu beginnen trachtete, glau-
    ben können, daß diese Jugend ihn ohne Buße loslas-
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    sen werde, mit Al em, was eine Jugend, wie die seine,
    hinterläßt an schlecht geheilten Wunden, nicht ver-
    schmerzten Enttäuschungen und nachwirkender
    Verbitterung, an zu kürzlichen Erfahrungen, die auf
    das neue Leben ihre Schatten werfen. Es gab in sei-
    nem Leben so unendlich viele Trümmer, die ihm den
    Weg versperrten und fortgeräumt werden mußten,
    ehe er von neuem zu bauen beginnen konnte. Und
    dies war es, was hier geschehen war, mit einem
    Schlage, der Alles in der Vergangenheit ihn Bela-
    stende mit seiner Wucht in unerkennbare Fernen zu-
    rückschob und beinahe unwirklich machte. Alles
    ward unansehnlich und verlor seine Wirkung in der
    Erinnerung angesichts dieses Opfers, welches sein
    Dasein erfordert hatte, und durch welches fortan
    sein Fühlen reiner, sein Denken größer gemacht
    werden sollte. Der Gedanke aber, daß sie für ihn, für
    sein Lebensglück geopfert sei, ergriff ihn von neuem
    mit aller Gewalt. Seltsam, er fuhr fort zu bedenken,
    daß die Natur, welche kein Gefühl für das einzelne
    Geschöpf besitzt und im Großen plant, häufig so
    wie hier, ein Leben zerstört, um ein anderes dadurch
    erhalten und verbessern zu können, während er sich
    doch gleichzeitig unter lautem Aufschluchzen über
    den stillen Körper warf, dem er wie ein Geständnis
    zurief:
    »Ich habe Dich getötet!«
    Aber, ist es nicht eben dieser Widerspruch eines
    sich ohnmächtig fühlenden Fatalismus mit dem un-
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    überwindlichen Gefühle der Verantwortlichkeit, der
    das Tragische eines jeden Menschenlebens ausmacht,
    des einfachsten wie des bedeutendsten?
    Die Dunkelheit ließ nur mehr wenig unterscheiden,
    als der regungslos über die Tote Geneigte seiner
    schmerzlichen Hingabe durch das Öffnen der Thür
    entrissen wurde. Er erkannte in dem Eingetretenen
    einen Geistlichen. Anna war durch das lange Ver-
    bleiben ihres Gatten bei der Toten beunruhigt wor-
    den. Um nun seinen Schmerz mit einer sanften und
    verständnisvollen Hand zu berühren, hatte ihr Herz,
    dem ihr freidenkerischer Geist nie etwas von seiner
    Pietät genommen, das rechte Mittel gefunden. Der
    Geistliche, welchen sie holen ließ, gehörte der ka-
    tholischen Religion an, welche die der Verstorbenen
    gewesen, und für die Anna die Vorliebe ihres Gatten
    kannte. Es war ein Mann von Jahren, der die Wissen-
    schaft des Beichtstuhls, die reiche Erfahrung, die in
    seinem Berufe so feine Seelenkenner bildet, wohl zu
    nutzen verstand. Er war gewohnt, dort den Trost,
    der trotz Allem der beste bleibt, anzuwenden, wo es
    gab, was er in seinen Gebeten von der Kanzel »Sün-
    den« nannte, und worunter er »Leiden« begriff. So
    hatte er sich auch jetzt bereits bei der Begrüßung
    durch Anna durch leise, kluge Erkundigungen über
    die Lage der Verhältnisse aufgeklärt, die er völlig
    überschaute, wie er nun an das Totenbett trat. Als er
    den fassungslos davor Knieenden bewogen, sich zu
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    erheben, und ihn an der Hand einige Schritte ins
    Zimmer hinein geführt hatte, sagte er, still in den
    Schatten deutend, in dem Dora schlummerte:
    »Unsere Toten wünschen, daß wir schon im Le-
    ben den Frieden haben mögen, den sie leider oft erst
    im Tode gefunden haben.«
    289
    X
    Schluß
    In die Vorbereitung zum Leichenbegängnis setzten
    sowohl Anna wie Wellkamp viel Eifer, der nicht
    ganz frei von einer gewissen Verlegenheit war. Ge-
    wöhnlich dienen die äußerlichen Pflichten, die aus
    einem
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