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In einer anderen Welt (German Edition)

In einer anderen Welt (German Edition)

Titel: In einer anderen Welt (German Edition)
Autoren: Jo Walton
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ihnen morgen sagen, dass es nicht geklappt hat. Komm jetzt – laufen wir nach Hause, oder warten wir auf den Bus?«
    Aber es hatte geklappt. Am nächsten Tag lautete die Schlagzeile im Aberdare Leader : »Phurnacite-Fabrik schließt: Tausende werden arbeitslos.«
    Diese Episode erzähle ich am Anfang, weil sie kurz und bündig ist, und außerdem hat sie Hand und Fuß, während sich das, was nun folgt, nicht so leicht erklären lässt.
    Halten Sie das, was ich hier schreibe, ruhig für meine Memoiren. Für Memoiren, die später – zum Entsetzen aller Leser – angezweifelt werden, weil der Verfasser gelogen hat und sich herausstellt, dass er eine andere Hautfarbe und ein anderes Geschlecht hat, dass er einer anderen Schicht und einer anderen Konfession angehört, als ursprünglich behauptet. Allerdings habe ich genau das entgegengesetzte Problem. Ich muss mich anstrengen, nicht zu normal zu klingen. Geschichten sind nett. Geschichten erlauben einem, auszuwählen und zu vereinfachen. Das hier ist keine nette Geschichte, und es ist auch keine einfache Geschichte. Aber es kommen Feen darin vor, Sie können sie also ruhig für ein Märchen halten. Sie werden sie sowieso nicht glauben.



Mittwoch, 5. September 1979
    »Du wirst sehen«, sagten sie, »auf dem Land fühlst du dich ganz bestimmt schrecklich wohl. Wo es doch bei euch so ... so viele Fabriken hat. Die Schule liegt mitten im Grünen – da gibt es Kühe und Gras und gesunde Luft.« Sie wollten mich loswerden. Und was war dafür besser geeignet als ein Internat? Dann konnten sie so tun, als gäbe es mich überhaupt nicht. Sie schauten mich nie direkt an. Sie schauten an mir vorbei oder kniffen die Augen zusammen. Ich gehörte nicht zu der Sorte Verwandtschaft, mit der sie sich, wenn es nach ihnen gegangen wäre, abgegeben hätten. Er sah mich vielleicht manchmal an, ich weiß es nicht. Ich konnte ihm nicht in die Augen blicken. Ich schaute immer mal wieder kurz zu ihm hinüber, aber mehr als sein Bart und seine Haarfarbe ist mir nicht im Gedächtnis geblieben. Sieht er mir ähnlich? Keine Ahnung.
    Er hat drei ältere Schwestern. Drei! Bisher hatte ich nur Fotografien von ihnen gekannt. Da waren sie noch viel jünger gewesen, aber mit denselben Gesichtern wie heute; sie waren als Brautjungfern herausgeputzt gewesen, und meine Tante hatte neben ihnen so braun wie ein Ahornblatt ausgesehen. Auch meine Mutter war auf dem Bild gewesen, in ihrem grässlichen pinkfarbenen Hochzeitskleid (pink, weil es Dezember war und wir im Juni darauf geboren wurden – ganz schamlos war sie nicht), aber er nicht. Sie hatte ihn rausgerissen. Ich hatte noch nie ein Bild von ihm gesehen, nicht ein einziges. In dem Roman Jane of Lantern Hill von L. M. Montgomery erkennt ein Mädchen, dessen Eltern geschieden waren, ihren Vater auf einem Bild in der Zeitung, ohne ihn jemals vorher gesehen zu haben. Nachdem wir das gelesen hatten, schauten wir uns einige Bilder an, aber sie sagten uns nichts. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass wir meistens nicht groß an ihn dachten.
    Selbst als ich in seinem Haus stand, war ich fast überrascht, dass es ihn gab, ihn und seine drei herrischen Halbschwestern, die von mir verlangten, dass ich Tante zu ihnen sagte. »Nicht Tantchen«, erklärten sie mir, »Tantchen klingt so gewöhnlich.« Also sagte ich Tante zu ihnen. Ich weiß, dass sie Anthea, Dorothy und Frederica heißen, wie ich überhaupt viele Dinge weiß, auch wenn manches davon gelogen ist. Nichts von dem, was meine Mutter mir erzählt hat, glaube ich wirklich, solange ich es nicht überprüft habe. Manche Dinge kann man jedoch nicht in Büchern nachschlagen. Außerdem nützt es mir nichts, dass ich ihre Namen kenne, denn ich kann sie nicht auseinanderhalten, also sage ich einfach nur Tante zu ihnen. Sie sagen äußerst förmlich »Morwenna« zu mir.
    »Arlinghurst ist eine der besten Mädchenschulen im ganzen Land«, erklärte eine von ihnen.
    »Wir waren alle dort«, pflichtete eine andere bei.
    »Und es war wirklich prima«, schloss die dritte. Es scheint eine Angewohnheit von ihnen zu sein, abwechselnd zu sprechen.
    Und ich? Ich stand einfach nur vor dem kalten Kamin, schaute unter meinen Ponyfransen hervor und stützte mich auf meinen Stock. Der ebenfalls zu den Dingen gehörte, die sie nicht sehen wollten. Als ich aus dem Wagen ausgestiegen war, hatten sie mich mitleidig gemustert. Das kann ich nicht ausstehen. Ich hätte mich gerne hingesetzt, aber ich wollte nicht darum bitten.
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