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In einer anderen Welt (German Edition)

In einer anderen Welt (German Edition)

Titel: In einer anderen Welt (German Edition)
Autoren: Jo Walton
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Krüppelschuhen für Damen gibt es keine große Auswahl – man kauft sie entweder in Braun oder in Schwarz. Meine sind schwarz. Mein Gehstock ist aus Holz. Früher hat er mal Opa gehört, der immer noch am Leben ist, im Krankenhaus liegt und sich bemüht, wieder gesund zu werden. Wenn er wieder gesund wird, darf ich vielleicht nach Hause zurück. Alles in allem ist das eher unwahrscheinlich, aber es ist meine einzige Hoffnung. Am Reißverschluss meiner Strickjacke baumelt mein hölzerner Schlüsselring. Er ist aus einer Baumscheibe geschnitzt, mit Rinde und allem. Er stammt aus Pembrokeshire. Ich hatte ihn schon ... na ja, vorher. Ich berührte ihn, in etwa so, wie wenn man auf Holz klopft, und sah, dass sie die Geste bemerkt hatten. Ich sah, was sie sahen – einen sonderbaren, launischen verkrüppelten Teenager mit einem schmutzigen Stück Holz. Was sie stattdessen hätten sehen sollen, sind zwei strahlend selbstbewusste Kinder. Ich weiß, was passiert ist, aber sie nicht, und sie würden es auch nie verstehen.
    »Ihr seid sehr englisch«, sagte ich.
    Sie lächelten. Wo ich herkomme, ist »Saes« eine Beleidigung, eine Provokation – das Schlimmste, was man zu jemandem sagen kann. Es bedeutet »englisch«. Aber jetzt bin ich in England.
    Wir aßen an einem Tisch zu Abend, der für sechzehn Gäste klein gewesen wäre. Doch das fünfte Gedeck, das für mich aufgelegt worden war, wirkte irgendwie fehl am Platze. Alles passte zusammen, die Tischsets, die Servietten, die Teller. Ganz anders als bei uns daheim. Das Essen war erwartungsgemäß schauderhaft – zähes Fleisch, wässrige Kartoffeln und irgendso ein grünes, längliches Gemüse, das nach Gras schmeckt. Die Leute haben mir mein Leben lang erzählt, wie furchtbar englisches Essen ist, und es ist beruhigend, dass sie recht haben. Bei Tisch wurde über Internate gesprochen, denn sie sind alle auf eins gegangen. Mir war nichts davon neu. Schließlich habe ich die Greyfriars -Serie, alle Dolly -Bücher und sämtliche Werke von Angela Brazil gelesen.
    Nach dem Abendessen bat er mich in sein Arbeitszimmer. Die Tanten wirkten davon nicht allzu begeistert, aber sie sagten nichts. Das Arbeitszimmer war eine Riesenüberraschung, denn es ist mit Büchern vollgestopft. Eigentlich hatte ich elegante alte Lederausgaben von Dickens, Trollope und Hardy erwartet (Oma liebte Hardy), aber stattdessen sind die Regale gerammelt voll mit Taschenbüchern, das meiste davon SF. Zum ersten Mal, seit ich das Haus betreten hatte, seit ich ihm gegenüberstand, entspannte ich mich ein wenig. Wenn es hier Bücher gab, würde vielleicht nicht alles so schlimm sein.
    In dem Zimmer gab es noch andere Dinge – Stühle, einen Kamin, ein Tablett mit Gläsern, einen Plattenspieler –, aber das ignorierte ich und lief, so schnell und unbeholfen mir das möglich war, zu dem SF-Regal.
    Da standen eine Menge Bücher von Poul Anderson, die ich noch nicht gelesen hatte. Quer über dem Buchstaben A lag Die Suche der Drachen , offenbar eine Fortsetzung von »Die Drachenkönigin«, einer längeren Erzählung, die ich in einer Anthologie gelesen hatte. Auf dem Regal darunter entdeckte ich einen John Brunner, den ich noch nicht kannte. Noch besser – zwei John Brunner, nein, drei John Brunner, die ich noch nicht kannte. Mir schossen die Tränen in die Augen.
    Den Sommer hatte ich fast ohne Bücher verbracht, denn ich besaß nur das, was ich mitgenommen hatte, als ich von Zuhause weggelaufen war – die dreibändige Taschenbuchausgabe von Der Herr der Ringe natürlich; Die zwölf Striche der Windrose von Ursula Le Guin, für mich die beste Storysammlung aller Zeiten; außerdem war ich damals gerade mittendrin in John Boyds Der Überläufer , das mir aber inzwischen nicht mehr so gut gefiel. Ich hatte Als Hitler das rosa Kaninchen stahl von Judith Kerr gelesen, aber nicht mitgenommen, und wenn ich daran dachte, dass Anna ihr geliebtes rosa Kaninchen zurückgelassen und stattdessen ein neues Spielzeug mitgenommen hatte, als ihre Familie das Dritte Reich verließ, wurde mir ganz unwohl, wann immer ich den Boyd anschaute.
    »Kann ich ...«, wollte ich fragen.
    »Du kannst dir jedes Buch ausleihen, das du möchtest, wenn du darauf achtgibst und es wieder zurückbringst«, sagte er. Ich schnappte mir einen Anderson, den McCaffrey, die Brunners. »Was hast du da?«, fragte er. Ich drehte mich um und zeigte es ihm. Wir sahen beide die Bücher an, nicht einander.
    »Hast du das erste davon gelesen?«, fragte er
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