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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis
Autoren: Jon Krakauer
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hundertpro«, versicherte er Gallien.
    »Es hatte überhaupt keinen Sinn, dem Jungen was ausreden zu wollen«, erinnert sich Gallien. »Er war felsenfest entschlossen. Durch nichts mehr zu bremsen. Richtig aufgeregt, wenn ich heute so drüber nachdenke. Er konnte es kaum erwarten, loszulegen und in die Wälder abzutauchen.«
    Drei Stunden hinter Fairbanks bog Gallien vom Highway ab und lenkte seine klapprige Allradkiste in eine tiefverschneite Nebenstraße. Die ersten paar Meilen war der Stampede Trail noch ganz passabel. Er führte an Blockhütten vorbei, die zwischen kümmerlichen Fichten und Espen verstreut standen. Als sie jedoch die letzte der Hütten hinter sich gelassen hatten, wurde es immer schlimmer. Der Trail war von Erlen überwuchert und verwandelte sich immer mehr in einen ruckeligen Pfad, der offensichtlich nicht instand gehalten wurde.
    Im Sommer wäre der Trail zwar auch nicht viel besser, aber zumindest befahrbar. Jetzt, unter dem fünfzig Zentimeter hohen, matschigen Frühlingsschnee, war er praktisch unpassierbar. Als sie nach zehn Meilen eine leichte Anhöhe erreichten, hielt Gallien seinen Pick - up an. Er hatte Angst, steckenzubleiben. Die eisigen Gipfel des höchsten Bergmassivs Nordamerikas schimmerten am südwestlichen Horizont.
    Alex bestand darauf, Gallien seine Uhr, seinen Kamm und etwas Kleingeld zu geben, das, wie er betonte, sein ganzes Vermögen darstellte: fünfundachtzig Cents. »Ich will dein Geld nicht«, protestierte Gallien, »und eine Uhr hab ich selber.«
    »Wenn Sie's nicht nehmen, werfe ich's weg«, erwiderte Alex fröhlich. »Ich will nicht wissen, wie spät es ist. Ich will nicht wissen, welchen Tag wir haben oder wo ich bin. All das ist unwichtig.«
    Bevor Alex ausstieg, langte Gallien hinter den Sitz, holte ein paar alte, robuste Gummistiefel hervor und überredete den Jungen, sie zu nehmen. »Sie waren ihm zu groß«, erinnert sich Gallien. »Aber ich sagte: ›Zieh dir zwei paar Socken über, dann müßten die Füße halbwegs warm und trocken bleiben.‹«
    »Wieviel schulde ich Ihnen dafür?«
    »Ist schon gut«, antwortete Gallien. Dann gab er dem Jungen einen kleinen Zettel mit seiner Telefonnummer, den Alex sorgfältig in einer kleinen Brieftasche aus Nylon verstaute.
    »Ruf mich an, falls du hier lebend wieder rauskommst. Dann sag ich dir, wie du mir die Stiefel wieder zurückgeben kannst.«
    Galliens Frau hatte ihm zwei gegrillte Sandwiches mit Käse und Thunfisch und eine Packung Maischips eingepackt. Er überredete den jungen Tramper, auch das Essen anzunehmen. Alex holte eine Kamera aus seinem Rucksack und bat Gallien, noch schnell ein Foto von ihm zu machen. Er schulterte das Gewehr und stellte sich vor dem Trail auf. Schließlich verschwand er mit breitem Lächeln den verschneiten Pfad hinunter. Es war Dienstag, der 28. April 1992.
    Gallien wendete den Pick - up, fuhr zum Parks Highway zurück und setzte seinen Weg nach Anchorage fort. Nach ein paar Meilen kam er an Healy vorbei, wo die Alaska State Troopers einen Posten unterhalten. Gallien spielte kurz mit dem Gedanken, anzuhalten und die Leute dort von Alex zu unterrichten, ließ es dann aber bleiben. »Ich dachte, es wird schon irgendwie gutgehen«, erklärte er.
    »Ich dachte, wahrscheinlich wird er ziemlich schnell hungrig werden und einfach zum Highway zurückgehen. So wie jeder normale Mensch.«

Der Stampede Trail

    KAPITEL ZWEI
    Jack London is King
Alexander Supertramp
Mai 1992
    Inschrift auf einem Stück Holz,
entdeckt an dem Ort,
an dem Chris McCandless starb.
      
    Dunkler Tannenwald dräute finster zu beiden Seiten des Wasserlaufs. Der Wind hatte kürzlich die weiße Schneedecke von den Bäumen gestreift, so daß sie aussahen, als drängten sie sich unheimlich finster in dem schwindenden Tageslicht aneinander. Tiefes Schweigen lag über dem Lande, das eine Wildnis war, ohne Leben, ohne Bewegung, so einsam, so kalt, daß die Stimmung darin nicht einmal traurig zu sein schien. Vielmehr lag ein Lachen darüber, ein Lachen schrecklicher als jede Traurigkeit, freudlos wie das Lächeln der Sphinx, kalt wie der Frost und grimmig wie die Notwendigkeit. Die unerbittliche, unerforschliche Weisheit des Lebens und seiner Anstrengungen. Es war die echte Wildnis, die ungezähmte, kaltherzige Wildnis des Nordens.
    JACK LONDON, »WOLFSBLUT«
       
      
    Am Nordrand der Alaska Range, kurz bevor die mächtgen Felswände des Mount McKinley und seiner Ableger sich der Kantishna - Ebene ergeben, liegt die
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