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In der Südsee. Zweiter Band

Titel: In der Südsee. Zweiter Band
Autoren: Robert Louis Stevenson
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nach der Lagune auf, und ehe das Kanoe an Ort und Stelle war, war es bereits vier Uhr geworden und der Morgenstern stand dicht unter dem Horizont. Da schien der Fremde von einem plötzlichen Unbehagen befallen; er drehte sich um und wandte zum erstenmal Rua das Gesicht eines Menschen zu, der lange schon tot ist, mit weit aufgerissenen, leuchtenden Augen. Dann starrte er lange Zeit nach Osten, blies auf seine Fingerspitzen wie einer, den es friert, stieß einen seltsamen, schauerlichen Ton aus, der halb ein Pfeifen, halb ein Stöhnen war, und bei dem einem das Blut in den Adern gerann, und zerfloß, gerade in dem Augenblick als der Morgensternaus dem Meere auftauchte, plötzlich in Nichts. Jetzt verstand Rua, weshalb es seinem Vater so gut ging, weshalb seine Fische in der Morgenfrühe verfaulten und weswegen immer etliche davon auf den Friedhof getragen und auf die Gräber gelegt wurden. Nun war zwar mein Gewährsmann ganz entschieden kein Feind des Aberglaubens, trotzdem blieb er stets nüchtern und bezeugte für derartige Dinge ein gewisses überlegenes Interesse, das ich mit gutem Recht als wissenschaftlich bezeichnen kann. Da also der letzte Punkt ihn an einen ähnlichen Brauch auf Tahiti erinnerte, fragte er Rua, ob die Fische auf den Gräbern liegen gelassen wurden, oder ob man sie nur scheinbar opferte und dann wieder mit sich nähme? Es stellte sich heraus, daß der alte Mariterangi beides tat; manchmal brachte er seinem schattenhaften Partner lediglich ein Scheinopfer dar, mitunter ließ er seine Fische aber auch ganz ehrlich auf dem Grabe vermodern.
    Es ist klar, daß wir in Europa ähnliche Geschichten kennen: der polynesische »varua ino« oder »aitu o le vao« ist offenbar ein naher Verwandter des transsylvanischen Vampyrs. Aus der nachstehenden Geschichte gehen die nahen Beziehungen beider deutlich hervor. Auf dem damals zum Teil noch unzivilisierten Atoll Penrhyn lebte einst ein Häuptling, der lange Zeit ein heilsamer Schrecken der Eingeborenen war. Er starb und wurde begraben; kaum hatten jedoch seine bisherigen Nachbarn die Süßigkeit ihrer Freiheit gekostet, als auch schon sein Geist im Dorfe umging. Furcht packte sie alle; aus den wichtigsten Männern und Zauberern wurde ein Rat gebildet und mit GenehmigungRarotongans, des Missionars, der nicht minder ins Bockshorn gejagt war als die anderen, sowie in Gegenwart verschiedener Weißer – darunter auch meines Freundes Mr. Ben Hird – wurde das Grab geöffnet, vertieft, bis man auf Wasser stieß, und die Leiche mit dem Gesicht nach unten neu eingegraben. Das Pfählen von Selbstmördern in England, wie es vor kurzem noch Sitte war, sowie das Köpfen der Vampyre im östlichen Europa bilden enge Parallelen hierzu.
    Auf Samoa fürchtet man sich nur vor den unbegrabenen Toten. Während des letzten Krieges sind viele im Busch gefallen; ihre Leichen wurden mitunter geköpft, von den eingeborenen Pastoren eingeholt und begraben; das genügte jedoch aus irgendeinem Grunde nicht, jeder Geist fuhr fort, auf dem Schauplatz seines Ablebens zu spuken. Als der Friede erklärt wurde, spielten sich an manchen Orten, hauptsächlich aber in der Nähe der hochgelegenen Schluchten von Lotoanuu, wo die Kämpfe sich konzentriert hatten und die Verluste am heftigsten gewesen waren, merkwürdige Szenen ab. Die weiblichen Verwandten der Toten kamen, von den Überlebenden des Kampfes begleitet, mit Matten oder Laken beladen. Die Stellen, wo die Betreffenden gefallen waren, wurden sorgfältig erforscht, dann wurde das Laken auf dem Boden ausgebreitet und die Frauen hielten, von pietätvoller Sorge getrieben, daneben Wacht. Wenn irgendein Lebewesen sich darauf niederließ, wurde es die ersten beiden Male verscheucht, das drittemal jedoch wußte man, daß es der Geist des Toten war; es wurde daher eingefangen, nach Hause gebracht und neben der Leiche begraben. Damit hatte der Aituseine Ruhe gefunden. Diese Zeremonie entsprang sicherlich den schlichtesten, frommsten Motiven; sie hatte zum Ziel den Frieden der Seele, der Beweggrund war pietätvolle Liebe. Der gegenwärtige König will jedoch nichts von den gefährlichen Aitus wissen; er erklärt, die Seelen der Unbegrabenen wanderten lediglich im Fegefeuer umher, unglücklich wohl, ohne die Möglichkeit, das eigentliche Totenland zu erreichen, aber in keiner Hinsicht schädlich. Diese streng klassische Auffassung spiegelt zweifellos den Standpunkt der Aufgeklärten wider, während die Flucht meines Lafaeles die gröberen
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