Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
die Sachen der NASA sind im Vorratsschrank in Node 1. Sieh nach, was auf den Aufklebern steht, da ist der Inhalt der Packungen genau aufgelistet.«
    Jack schoss aus dem Servicemodul heraus. Wieder stieß er gegen Wände und Kanten, während er sich unbeholfen in Richtung Node 1 vorarbeitete. Seine Hände zitterten, als er den Schrank öffnete. Er zog drei Nomex-Beutel heraus, bis er denjenigen mit der Aufschrift »Bohrmaschine/Einsätze/Adapter« gefunden hatte. Rasch nahm er noch einen zweiten Beutel mit Schraubenziehern und einem Hammer und stieß sich sofort wieder ab. Er hatte sie nur wenige Augenblicke allein gelassen, doch die Angst, sie tot vorzufinden, ließ ihn in höchster Eile durch das Zarya-Modul und zurück in das RSM fliegen.
    Sie atmete noch.
    Er klebte die Beutel am Tisch fest und zog die Bohrmaschine heraus. Sie war für Reparatur- und Bauarbeiten in der Raumstation gedacht, nicht für neurochirurgische Zwecke. Jetzt, wo er den Bohrer in der Hand hielt und darüber nachdachte, was er eigentlich vorhatte, ergriff ihn Panik. Er operierte unter unsterilen Bedingungen mit einem Instrument, das für Stahlschrauben und nicht für Fleisch und Knochen gedacht war. Er sah Emma an, die schlaff und reglos auf dem Tisch lag, und dachte an das, was unter diesem Schädeldach lag, dachte an ihre grauen Zellen, in denen ein Leben voller Erinnerungen, Träume und Gefühle gespeichert war. Alles, was einzigartig an ihr war, alles, was sie zu Emma machte – und jetzt mit ihr sterben würde.
    Aus dem Medizinschrank nahm er eine Schere und ein Rasiermesser. Dann packte er eine Strähne ihres Haars und schnitt es ab; anschließend rasierte er die Stoppeln ab, um in Höhe des linken Schläfenbeins eine Fläche für den Einschnitt freizulegen.
Dein wunderschönes Haar. Ich habe dein Haar immer geliebt. Ich habe dich immer geliebt.
    Ihr restliches Haar steckte er zusammen, damit es nicht in die Wunde fiel. Mit einem Klebstreifen fesselte er ihre Hand an den Tisch. Immer schneller und schneller arbeitend, legte er sich jetzt die Instrumente zurecht. Den Absaugkatheter. Das Skalpell. Den Verbandmull. Er schwenkte die Bohreinsätze in Desinfektionsmittel und wischte sie mit Alkohol ab.
    Dann streifte er sich sterile Handschuhe über und griff nach dem Skalpell.
    Seine Haut fühlte sich klamm an in den Gummihandschuhen, als er den ersten Schnitt machte. Blut sickerte aus der Kopfhaut und quoll zu einer Kugel an, die immer größer wurde. Er tupfte das Blut mit Gaze weg und schnitt tiefer, bis die Klinge über den Knochen kratzte.
    Den Schädel zu öffnen bedeutet, das Gehirn einem ganzen Universum feindlicher Invasoren aus dem Reich der Mikroben auszusetzen. Doch der menschliche Körper ist robust; er kann auch die gröbsten Attacken überleben. Das sagte er sich immer wieder, während er eine kleine Kerbe in das Schläfenbein ritzte und die Spitze des Bohrers in Position brachte. Die alten Ägypter und die Inka hatten mit Erfolg Schädeltrepanationen durchgeführt, hatten mit den primitivsten Werkzeugen und ohne jeden Gedanken an sterile Verfahrensweisen Löcher in Schädeldecken gebohrt. Es war machbar.
    Seine Hände waren ruhig, seine ganze Energie in wilder Entschlossenheit auf diese Aufgabe konzentriert, als er den Knochen zu durchbohren begann. Nur wenige Millimeter zu tief, und er verletzte das Gehirn. Tausende von kostbaren Erinnerungen wären von einer Sekunde auf die andere vernichtet. Oder er ritzte die Hirnhautarterie an und löste einen unstillbaren Blutstrom aus. Immer wieder hielt er inne, um Atem zu schöpfen und die Tiefe des Lochs zu überprüfen.
Schön langsam. Schön langsam.
    Plötzlich spürte er, wie die letzte feine Knochenschicht nachgab und der Bohrer durchbrach. Sein Herz klopfte bis zum Hals, als er die Spitze vorsichtig herauszog.
    Sofort bildete sich eine Blutblase; langsam anschwellend quoll sie aus der offenen Stelle. Das Blut war dunkelrot – venös. Er seufzte erleichtert auf. Kein arterielles Blut. Schon jetzt ließ der Druck auf Emmas Gehirn langsam nach, da die innere Blutung durch diese neue Öffnung abfließen konnte. Er saugte die Blutblase ab und benutzte Gaze, um das nachsickernde Blut aufzunehmen, während er das nächste Loch bohrte, und dann das Nächste, bis er ihren Schädel in einem Kreis von einem Zoll Durchmesser perforiert hatte. Als das letzte Loch gebohrt und der Kreis geschlossen war, waren seine Hände völlig verkrampft und sein Gesicht mit Schweißperlen bedeckt. Er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher