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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition)
Autoren: Dennis Lehane
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ging, was für ein Schlitzohr er gewesen war, ein Lausejunge mit nichts als Flausen im Kopf. Es waren lauter amüsante Schnurren, wie gemacht für die Hal-Roach-Komödien in der Samstagnachmittagsvorstellung, nicht zuletzt, weil er verschwieg, wie sie unweigerlich geendet hatten – mit einer Ohrfeige oder einer gehörigen Tracht Prügel.
    Emma lächelte und kicherte an genau den richtigen Stellen, doch Joe merkte, dass sie nur so tat, als würde sie sich blendend unterhalten. Alle taten sie nur so. Joe und Thomas taten so, als wären sie ein Herz und eine Seele, und Emma tat so, als würde sie nicht mitbekommen, dass das genaue Gegenteil der Fall war.
    Nach der obligatorischen Geschichte darüber, was sein Jüngster seinerzeit mit sechs Jahren in ihrem Garten angestellt hatte – Joe hatte die Story so oft gehört, dass er selbst die Kunstpausen seines Vaters auf den Sekundenbruchteil vorhersagen konnte –, richtete Thomas das Wort an Emma und fragte, woher ihre Familie stammte.
    »Aus Charlestown«, erwiderte sie, und Joe glaubte einen Hauch von Trotz aus ihrer Stimme herauszuhören.
    »Nein, nein, ich meinte, woher Ihre Familie ursprünglich kommt. Ich sehe Ihnen doch an der Nasenspitze an, dass Sie Irin sind. Sie wissen doch bestimmt, woher Ihre Vorfahren stammen.«
    Der Kellner räumte die Salatteller ab, während Emma antwortete: »Der Vater meiner Mutter kam aus Kerry. Und die Mutter meines Vaters aus Cork.«
    »Ich bin ganz in der Nähe von Cork geboren.« Thomas schien über die Maßen erfreut.
    Emma nippte an ihrem Wasser, ohne auf ihn einzugehen. Es war, als hätte sich ein Teil von ihr urplötzlich verabschiedet. Joe war das schon öfter aufgefallen – irgendetwas in ihr klinkte sich einfach aus, wenn sie sich unwohl fühlte, mit einer Situation nicht umgehen konnte. Auf einmal wirkte ihr Körper, als hätte sie ihn auf der Flucht zurückgelassen, und das, was ihr ureigenes Wesen ausmachte, war von einer Sekunde auf die andere verschwunden.
    »Wie hieß Ihre Großmutter denn mit Mädchennamen?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte sie.
    »Sie wissen es nicht?«
    Emma zuckte mit den Schultern. »Sie ist tot.«
    Thomas war völlig perplex. »Aber es kann Ihnen doch nicht egal sein, von wem Sie abstammen.«
    Emma hatte dafür nur ein weiteres Schulterzucken übrig und zündete sich eine Zigarette an. Thomas zeigte es nicht, doch Joe wusste, dass er fassungslos war. Moderne, selbstbewusste Frauen brachten ihn seit jeher auf die Palme, egal ob sie rauchten, zu kurze Röcke trugen, mit tief ausgeschnittenen Dekolletés provozierten oder sich schamlos in der Öffentlichkeit betranken, ohne Rücksicht auf die bürgerliche Moral.
    Thomas lächelte. »Wie lange kennen Sie meinen Sohn eigentlich schon?«
    »Ein paar Monate.«
    »Seid ihr beide –«
    »Dad.«
    »Joseph?«
    »Also, momentan sind wir noch gar nichts.«
    Insgeheim hatte er gehofft, Emma würde kurz klären, in welchem Verhältnis sie zueinander standen, doch stattdessen warf sie ihm einen kurzen Blick zu, der nur allzu deutlich fragte, wie lange sie hier noch herumsitzen mussten, ehe sie wieder an ihrer Zigarette zog und sich gelangweilt im Saal umsah.
    Dann kam der Hauptgang, und die nächsten zwanzig Minuten verbrachten sie damit, sich über die Qualität der Steaks, die Sauce béarnaise und Creggers neuen Teppichboden zu unterhalten.
    Während des Desserts steckte sich auch Thomas eine Zigarette an. »Was machen Sie denn beruflich, meine Liebe?«
    »Ich arbeite bei Papadikis. Dem Möbellager am Hafen.«
    »In welcher Abteilung?«
    »Sekretariat.«
    »Hat mein Sohn eine Couch mitgehen lassen, oder wie habt ihr euch kennengelernt?«
    »Dad.«
    »Ich frage mich ja bloß, woher ihr euch kennt«, sagte sein Vater.
    Emma zündete sich eine weitere Zigarette an und ließ den Blick ein weiteres Mal durch das Restaurant schweifen. »Ein echter Angeberschuppen ist das.«
    »Mir ist nämlich durchaus klar, womit mein Sohn seine Brötchen verdient. Weshalb ich wohl davon ausgehen muss, dass Sie ihm im Zuge einer Straftat oder in irgendeinem übel beleumundeten Etablissement begegnet sind.«
    »Dad«, sagte Joe. »Ich dachte, wir wollten einfach nur nett zusammen essen.«
    »Tun wir doch auch. Miss Gould?«
    Emma sah ihn an.
    »Bin ich Ihnen mit meinen Fragen zu nahe getreten?«
    Emma musterte ihn mit einem dieser kühlen Blicke, der frisch aufgetragenen Dachteer zum Erstarren gebracht hätte. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Und ehrlich gesagt ist es mir auch
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