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Bote ins Jenseits

Bote ins Jenseits

Titel: Bote ins Jenseits
Autoren: Hauke Lindemann
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Rituale
     

     
     
    »Gott, der Gerechte!«
    Hätte man ihn gefragt, hätte Thore Kamp von sich behauptet, ein Mensch zu sein, den nichts so leicht aus der Ruhe bringen kann. Arbeiten unter Zeitdruck oder gar unter Beobachtung und Zeitdruck war für ihn kein Problem. Er war zu gut ausgebildet und zu talentiert, um nicht zu wissen, was er in seinem Job leistete. Aber jeder Mensch hatte seine Grenze, und die war jetzt eindeutig erreicht.
    »Das kann doch wohl nicht wahr sein! Roibuschtee mit Karamell… Roibuschtee mit Vanille…«, sagte er fassungslos. Er nahm die Packungen in die Hand und hielt beim Lesen einen Finger unter die Worte, um ganz sicherzugehen. Er hatte sich nicht verlesen.
    »Wer um alles in der Welt kauft denn so einen Mist?«, fragte er die menschenleere Stille um sich herum. Mit »Und wie fertig muss man sein, das auch noch zu trinken?«, präzisierte er seine Frage.
    In seinem Weltbild war Platz für grünen und schwarzen Tee. Ausnahmsweise, in absoluten Notfällen, durfte es auch mal ein Kamillentee sein. Hagebutten- oder gar Früchtetee driftete bereits ins Eklige ab. Aber das… Wer kam bloß auf solche Ideen?
    Thore Kamp liebte es, der Erste in der Firma, der AWB Abfallwirtschaftsbetriebe Köln GmbH & Co. KG, zu sein. Er erschien jeden Morgen mindestens eine halbe Stunde vor dem offiziellen Arbeitsbeginn, meistens noch früher. Sein erster Gang führte ihn dann direkt in eine der beiden kleinen Teeküchen, die sich auf jeder der drei Etagen befanden. Es war ihm eine lieb gewonnene Angewohnheit geworden, sich mit einem heißen schwarzen Tee – keine Milch, kein Kandis oder gar Zucker – an seinen Schreibtisch zu setzen und sich in aller Ruhe auf das vorzubereiten, was er an diesem Tag erledigen wollte. Auf diese Weise war er schon auf Betriebstemperatur, während die anderen erst nach und nach eintrudelten.
    Er tat es nicht, um sich bei seinen Vorgesetzten beliebt zu machen. Dazu hätte er sie schon auf sein pünktliches Erscheinen hinweisen müssen, denn sie kamen regelmäßig eine halbe Stunde zu spät. Er fühlte sich einfach gut dabei, kam besser in den Tag und schaffte mehr. Außerdem war er bekennend ehrgeizig und empfand es als ganz selbstverständlich, sich sein Geld auch zu verdienen.
    »Hier muss doch irgendwo… Ah!… Oh!«
    Im Schrank über der Spüle entdeckte er eine Schachtel Kamillentee, die gerade noch einen Beutel enthielt. Das Regal direkt daneben, auf dem sich Kaffeepulver, Kondensmilch, Zucker, Kandis und die Teepackungen befanden, enthielt leider nur die beiden Schachteln für Geschmacksneurotiker.
    Dies war also einer der seltenen Notfälle, er musste Kamillentee trinken.
    Er würde den Azubi, der für das Auffüllen der Vorräte verantwortlich war, nachher erst mal zum Rapport bitten, um zu erfahren, wer ihn mit dem Kauf dieser Ungeheuerlichkeit beauftragt hatte. Und gnade ihm Gott, wenn es seine eigene Idee gewesen war!
    Kamp goss das kochende Wasser in seine Tasse und schlenderte, immer noch den Kopf schüttelnd, in sein Büro. Es lag in der Mitte des Flurs, vier Türen von der Teeküche entfernt. Das bot genug Zeit und Gelegenheit, um durch eine falsche Bewegung – Kopfschütteln zum Beispiel – kochend heißes Wasser aus der bis zum Rand gefüllten Tasse über die Finger schwappen zu lassen.
    »Sch…«
    Er wischte sich die Hand an der Hose ab, fragte sich, was das wohl für ein Tag werden würde, der schon so unrund anlief, und setzte sich, jetzt ganz vorsichtig und unfallfrei, in seinen Drehstuhl.
    »Aaahh.«
    Mit den Ellenbogen auf den Tisch gestützt, warf er einen Blick auf den von seinem Fenster aus einsehbaren Firmenparkplatz und schlürfte vorsichtig den ersten Schluck heißen Tee.
    Drei Autos konnte er sehen, seines, das vom Pförtner… und wem gehörte das dritte? Wer fuhr hier noch gleich einen VW-Touareg? Richtig, Frank Miller, der Leiter der Abteilung Materialwirtschaft. Aber dass der schon da sein sollte? Kamp erwog für einen kurzen Moment, zu ihm zu gehen, um vielleicht ein Schwätzchen zu halten, entschied sich aber dagegen. Er stand zwar gern früh auf, war dann aber meistens noch nicht besonders kommunikativ, und so sympathisch war ihm Herr Miller auch wieder nicht – sein Tee genoss Priorität.
    Kamp ließ als bekennender Gesundheitsfanatiker keine Gelegenheit aus, bei seinen Mitmenschen den Finger in die Wunde zu legen. Wer es wagte, in seiner Gegenwart zu rauchen – wie zum Beispiel der Leiter Materialwirtschaft –, durfte mit einem
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