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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition)
Autoren: Dennis Lehane
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daran lassen, dass er sich von seinem Gewissen schon lange verabschiedet hatte.
    Während sie nun in Joes Zimmer standen, veredelte Tim seinen Kaffee mit einem Schuss Rum aus seinem Flachmann. Er hielt ihn Joe hin, doch der schüttelte den Kopf. Tim steckte das Fläschchen wieder ein. »Wo hast du die letzten Tage gesteckt?«
    »Ich war hier.«
    Tim Hickey sah ihm einen langen Moment in die Augen. »Diese Woche warst du jeden Abend unterwegs, und in der Woche davor genauso. Hast du ein Mädchen?«
    Joe fiel kein Grund ein, warum er lügen sollte. »Hab ich, ja.«
    »Ist sie nett?«
    »Ziemlich lebhaft. Sie ist…« Joe kam nicht auf das richtige Wort. »Na ja, sie hat was.«
    Hickey trat einen Schritt auf ihn zu. »Die scheint dir ja direkt ins Blut gegangen zu sein, was?« Er tat so, als würde er sich eine Spritze in den Arm drücken. »Das sehe ich doch.« Seine Hand schloss sich um Joes Nacken. »Also, in unserer Branche trifft man selten die Richtige. Kann sie denn kochen?«
    »Ja.« Ehrlich gesagt hatte Joe nicht die geringste Ahnung.
    »Das ist wichtig. Ob sie anständig ist oder nicht, spielt keine Rolle, Hauptsache, sie kümmert sich um den Haushalt.« Hickey ließ ihn los und ging zur Tür. »Und wegen Pittsfield redest du mal mit diesem Typen.«
    »Das mache ich, Sir.«
    »Bist ’n guter Junge«, sagte Tim Hickey. Dann ging er hinunter in sein Büro, das sich gleich hinter der Kasinokasse befand.
    Tatsächlich blieb Carl Laubner noch zwei weitere Abende im Dienst, ehe sich Joe erinnerte, dass er ihn feuern sollte. Joe vergaß in letzter Zeit allerhand, inklusive zweier Verabredungen mit Hymie Drago, um die Sore vom Überfall auf Karshmans Pelzgeschäft zu verticken. Um den Spielautomaten hatte er sich gekümmert, doch als Laubner an jenem Abend seine Schicht antrat, traf sich Joe schon wieder mit Emma Gould.
    Seit jenem Spätnachmittag in der Kellerkneipe in Charlestown hatten er und Emma sich fast jeden Abend gesehen. Fast jeden, da sie an den anderen Abenden mit Albert White zusammen war, eine Situation, die Joe bislang schlicht als ärgerlich abgetan hatte, inzwischen aber als schier unerträglich empfand.
    War Joe nicht bei ihr, dachte er ununterbrochen daran, wann sie sich wieder treffen würden. Und wenn es dann so weit war, konnten sie die Finger nicht voneinander lassen. Wenn das Speakeasy ihres Onkels geschlossen hatte, trieben sie es dort. Waren ihre Eltern und Geschwister nicht zu Hause, fielen sie in Emmas Zimmer übereinander her. Sie hatten Sex in Joes Auto und Sex in seiner Bude, nachdem er sie über die Hintertreppe hinaufgeschmuggelt hatte. Sie hatten Sex zwischen ein paar kahlen Bäumen auf einem windigen Hügel mit Blick auf den Mystic River und an einem kalten Novemberstrand in der Bucht von Savin Hill. Ob sie es im Stehen, im Sitzen oder im Liegen machten, war ihnen herzlich egal, und ob drinnen oder draußen, ebenso. Wenn ihnen der Luxus einer ganzen Stunde miteinander vergönnt war, probierten sie jede neue Spielart, jede neue Stellung aus, die ihnen gerade in den Sinn kam. Und wenn ihnen nur ein paar Minuten blieben, machten sie einfach das Beste daraus.
    Sie sprachen selten miteinander. Jedenfalls über nichts, was jenseits ihres scheinbar unstillbaren Verlangens lag.
     Hinter Emmas hellgrauen Augen, ihrer fast transparenten Haut verbarg sich ein Wesen, das sich in eine Ecke seines Käfigs zurückgezogen hatte. Und es war keineswegs so, dass es aus seinem Käfig herausgewollt hätte. Es wollte, dass niemand dort hineinkam. Das Gitter öffnete sich, wenn sie ihn in sich aufnahm, für jene Stunden oder Minuten, die sie sich liebten. Dann war ihr Blick offen und innig, und ihm war, als könne er bis auf den Grund ihrer Seele sehen, ins rot schimmernde Zentrum ihres Herzens, in die Träume, denen sie in ihrer Kindheit nachgehangen hatte, vorübergehend befreit von dunklen Kellermauern und verriegelten Eisentüren.
    Doch wenn er nicht mehr in ihr war und ihr Atem wieder langsamer ging, konnte er genau beobachten, wie sich das Wesen wieder zurückzog. Es war, als würde er den Gezeiten zuschauen.
    Aber es war nicht wichtig. Allmählich begann er zu ahnen, dass er sie liebte. In jenen seltenen Augenblicken, wenn sich das Gitter öffnete und sie ihn zu sich ließ, erkannte er eine Frau, die sich danach sehnte, jemandem vertrauen zu können, die lieben wollte, einen unstillbaren Durst nach Leben hatte. Er musste sie nur davon überzeugen, dass er es wert war, jenes Vertrauen, jene Liebe
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