In der Mitte des Lebens
ermutigt, die eigenen Grenzen zu sehen und Formen zu finden, neue Kraft zugewinnen, durch
Impulse zum Nachdenken oder zu geistlichen Übungen mitten im Alltag. »Wer privat oder beruflich gefordert ist, dem helfen Rituale. Sie sind verinnerlichte
Gewohnheiten – Verhaltensweisen, die meist zur selben Zeit, am selben Ort und auf dieselbe Art und Weise praktiziert werden. Rituale entlasten: Sie
nehmen die Last ab, immer alles immer wieder neu entscheiden zu müssen. … Rituale sind wie ein Netz, das uns auffängt – uns Halt gibt, damit wir nicht
fallen – und falls wir fallen.« 26 Gerade das Gebet kann solch ein Ritual darstellen, am Morgen, am Mittag oder
am Abend. Oder die Viertelstunde am Abend, die ich allein für mich habe und Musik höre.
Gerade berufstätige Frauen in der Mitte des Lebens kennen dieses Gefühl: Da ist die Lust an der Leistung, aber ebenso der Kraftakt, täglich antreten zu
müssen. Das gehört wohl zur Mitte des Lebens, denke ich: die beruflichen Belastungen – und die Erschöpfung. Anforderungen wahrzunehmen und nicht zu
verdrängen – und der Sehnsucht nach Ruhe und Erholung Raum zu geben. Sich an der eigenen Leistungsfähigkeit freuen, aber auch den Leistungsdruck spüren
und ihm, wo nötig, widerstehen. Das ganze Gefragtsein, Wichtigsein, das Ringen um Status und die Angst vor Statusverlust können in die zweite Reihe
treten, wenn mir deutlich wird, dass dieses Ringen um Machbarkeit, die Pflichterfüllung, die mir wichtig ist, mit Blick auf das Leben insgesamt sekundär
sind. Beruflicher Erfolg kann schnell schal werden, wenn kein Lebensglück mehr verspürt wird, der Leistungsdruck überhandnimmt, die kleinen Dinge des
Lebens, die so viel bedeuten können, nicht mehr spürbar sind. Vielleicht macht genau das die »Leichtigkeit des Seins« aus, die Milan Kundera in seinem
schönen Roman beschrieben hat: begreifen, dass wichtig nicht immer das ist, was ich für wichtig halte. Wer das erkennt, wird eben doch ein klein wenig
weise in der Mitte des Lebens!
Kraftquellen müssen aber auch nicht ausschließlich spiritueller Natur sein. Ich gewinne auch neue Energie aus einem Abend mit einer Freundin in der
Sauna, ein paar Stunden in einemWellness-Bad. Der Besuch einer Kunstausstellung kann mir Kraft geben. Ein ausgiebiger Spaziergang. Ein
Frühstück mit den Töchtern. Wichtig ist: Entschleunigung, Entspannung, Unterbrechung des Alltages.
Für Menschen, die im Alltag eher zu viel Ruhe haben oder gar Leere empfinden, ist vielleicht auch ein Kontrastprogramm die richtige Kraftquelle –
Aktivität, Sport, Zusammensein mit anderen, eine ehrenamtliche Aufgabe, die fordert. Ich denke an einen Mann, der im Ruhestand erlebt, wie seine
Qualitäten als Bankfachmann in der Schuldnerberatung ganz neu gefragt sind. Er kommt jetzt in Wohnungen, die er früher nie betreten hätte, aber er erlebt:
Ich werde gebraucht. Ich verdiene kein Geld mit meiner Arbeit, aber ich leiste einen ungeheuer wichtigen Beitrag, Menschen brauchen mich und vertrauen
mir. Diese Erfahrung des Geben-Könnens, des Gebraucht-Werdens, der Beteiligung an der Gestaltung des Gewebes, das eine Gesellschaft zusammenhält, kann
ungeheure Energie schenken.
Aller Trauer um den Verlust jugendlicher Kraft und Leichtigkeit zum Trotz bringt die Mitte des Lebens ganz offensichtlich auch neuen Mut, das
Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden und neue Wege zu gehen. Abseits von Konventionen bringt sie den Mut, etwas ganz anderes zu wagen. Luise Rinser
hat einen interessanten Beziehungsroman geschrieben mit dem Titel »Mitte des Lebens«. Sie setzt ihn fort mit einem zweiten Band »Abenteuer der Tugend«, in
dem es ernüchternd heißt: »Aber was ist ›leben‹? Tun, was man will? Das glaubt man, wenn man jung ist. Leben bedeutet immer: tun, was man soll. Ich glaube
fast, es ist gleichgültig, was man tut. Es kommt nur auf die Intensität an, mit der man es tut.« 27 Ist das ein
Fazit in der Mitte des Lebens, eingebunden in die eingegangenen Verpflichtungen beruflicher und privater Art, nur noch zu tun, was du sollst, nicht mehr,
was du willst? Das wäre eine traurige Wahrheit. Ob deshalb so viele versuchen, die Mitte des Lebens zu vermeiden, sozusagen von Jung nach Alt ohne
Zwischenhalt, oder gar aus allem auszubrechen in der Mitte des Lebens?
Wer sich in der Mitte des Lebens befindet, kann nicht nur freier, sondern auch mutiger werden. Wie sehr hat mich früher Kritik
getroffen, wie
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