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In den Fängen der Macht

In den Fängen der Macht

Titel: In den Fängen der Macht
Autoren: Anne Perry
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ebenso gerecht ist, ebenso ihrer Hilfe bedarf und möglicherweise ihre Loyalität im gleichen Maße verdient.«
    Es war offensichtlich, dass es sich um kein philosophisches Argument handelte. Etwas Dringliches und von großer persönlicher Bedeutung stand hier auf dem Spiel. Man musste lediglich einen Blick auf Lyman Breelands angespannte Schultern und sein ernstes Gesicht, auf die Röte auf Merrits Wangen und Daniel Albertons spürbare Ungeduld werfen, um sich dieser Tatsache bewusst zu werden.
    Dieses Mal erwiderte Merrit nichts, aber ihr Zorn loderte nur zu offensichtlich. In vielerlei Beziehung war sie nichts weiter als ein Kind, aber ihre Gefühle waren so heftig, dass Monk die Situation als zunehmend peinlich empfand.
    Die Teller des Entrees wurden abgetragen, und es wurde Kirschkuchen mit Schlagsahne serviert. Alle aßen schweigend.
    Judith Alberton machte eine fröhliche Bemerkung über einen Liederabend, den sie kürzlich besucht hatte. Hester verlieh einem Interesse Ausdruck, von dem Monk wusste, dass es vorgetäuscht war. Sie machte sich nichts aus sentimentalen Balladen, und Judiths bemerkenswertes Gesicht betrachtend, fragte er sich, ob seine Gastgeberin dafür wirklich Interesse hatte. Dies schien ihm eine Geschmacksrichtung zu sein, die sich mit ihrer Ausstrahlung nicht vereinbaren ließ.
    Casbolt fing Monks Blick auf, und er lächelte, als ob er sich insgeheim amüsieren würde.
    Allmählich kam die Unterhaltung wieder in Gang, zaghaft und gesittet, mit einem gelegentlichen Witz. Dem Kuchen folgten frische Trauben, Aprikosen und Birnen mit Käse. Licht glänzte auf Silber, Kristall und weißem Leinen. Hier und da ertönte ein Lachen.
    Monk ertappte sich bei der Überlegung, warum Breeland eingeladen worden war. Diskret studierte er den Mann, seinen Gesichtsausdruck, die Spannungen in seinem Körper und die Art, wie er der Unterhaltung lauschte, als ob er entschlossen sei, etwaige tiefere Bedeutungen zu interpretieren, und nur auf seine Chance wartete, sich für eigene Belange einsetzen zu können. Doch diese Gelegenheit ergab sich nicht. Ein halbes Dutzend Mal bemerkte Monk, wie er Atem holte und es dann doch unterließ, das Wort zu ergreifen. Wenn Merrit sprach, sah er sie an, wobei sekundenlang Weichheit in seine Augen trat. Doch er vermied es gewissenhaft, sich zu ihr zu beugen oder eine andere Geste zu machen, die vertraut wirken könnte, ob er damit nun ihre Gefühle oder seine eigenen schützen wollte.
    Er war höflich zu Judith Alberton, aber nicht herzlich, als ob er ihr gegenüber befangen wäre. Zog man ihre bemerkenswerte Schönheit in Betracht, fiel es Monk nicht schwer, dies zu verstehen. Männer ließen sich leicht durch solche Frauen einschüchtern, wurden gehemmt und zogen es vor, zu schweigen, und riskierten solchermaßen, weniger klug und amüsant zu erscheinen, als sie dies erhofft hatten. Er war etwa zehn Jahre jünger als seine Gastgeberin, und Monk glaubte, dass er ohne deren Wissen in ihre Tochter verliebt war.
    Casbolt zeigte keinen solchen Mangel an Entspanntheit. Seine Zuneigung zu Judith war offensichtlich, aber als Cousine und Cousin kannten sie sich vermutlich bereits ihr ganzes Leben lang. Tatsächlich machte er, oft im Spaß, einige Andeutungen auf Ereignisse in der Vergangenheit, die sie gemeinsam erlebt hatten. Manche davon mochten damals Unheil gewesen sein, waren aber nun in der Erinnerung verblasst und schmerzten nicht mehr. Geteiltes Leid und geteiltes Lachen hatten ein einzigartiges Band zwischen ihnen geschaffen.
    Sie sprachen von Sommeraufenthalten in Italien, als sie drei – Judith, Casbolt und ihr Bruder Cesare – über die goldenen Hügel der Toskana gewandert waren, als sie charakteristische Stücke von antiken Skulpturen gefunden hatten, die auf die Zeit des Aufstiegs Roms zurückzudatieren waren, und über die Menschen spekuliert hatten, die diese erschaffen haben mochten. Judith lachte vor Vergnügen, aber Monk meinte, auch den Schatten des Schmerzes erkennen zu können. Mit einem Blick auf Hester stellte er fest, dass auch sie ihn wahrgenommen hatte.
    Auch in Casbolts Stimme lag es: Das Wissen um etwas, was zu tief saß, um je vergessen zu werden, und doch gemeinsam getragen werden konnte, da man es gemeinsam erlebt hatte. Er, sie und Daniel Alberton.
    Während des gesamten Essens war nichts Unverhohlenes und gewiss nichts angesprochen worden, was Ärgernis erregte. Aber Monk kam zu der Überzeugung, dass Casbolt Breeland nicht sonderlich mochte.
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