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In den eisigen Tod

In den eisigen Tod

Titel: In den eisigen Tod
Autoren: Diana H. Preston
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seines Schicksals gefühlt und von sich selbst geglaubt hatte, von Geburt an vom Pech verfolgt zu sein, und obwohl er letzten Endes scheiterte?
    Zum Teil lag es natürlich daran, dass Helden, die auf dem Zenit ihrer Leistung sterben, wie Lord Nelson oder General Wolfe, nicht mehr durch ihr späteres Verhalten in Ungnade fallen können. Zum anderen haben die Briten immer schon – auch bereits zu Scotts Lebzeiten – eine Vorliebe für tapfere Verlierer und heroische Versager gehegt.
    Doch einer der wichtigsten Gründe war die historische Situation. Es war eine Zeit, in der alte und neue Ideen mit voller Wucht aufeinander prallten. Im Parlament hatte sich die Liberal Party in einen Kampf mit den Lords verbissen. Armee und Marine waren jeweils in selbstquälerische Streitereien darüber verstrickt, wie ihre Methoden und ihre Ausrüstung zu modernisieren seien. Andere heikle Probleme überschatteten die Szene – die Frage der Selbstbestimmung für Irland, Konfrontationen zwischen Gewerkschaften und Unternehmern sowie der immer stürmischere Kampf der Suffragetten. Die moralischen Werte und die etablierte soziale Ordnung wurden immer mehr in Frage gestellt, während sich die Gewissheiten von Königin Victorias Goldenem Zeitalter allmählich auflösten. Immer häufiger wurden Vergleiche zwischen dem Niedergang des Römischen Reiches und der Situation Großbritanniens angestellt.
    Großbritanniens Gefühl der Selbstsicherheit und seine Fähigkeit, seine herausragende Stellung in der Welt zu behaupten, geriet angesichts neuer Bedrohungen und Herausforderungen ins Wanken. Am größten war dabei die Gefahr eines Krieges mit Deutschland. Ehe Scott 1910 in See stach, fragte er den Herausgeber der Daily Mail , wann seiner Meinung nach der Krieg ausbrechen werde. Mit erstaunlicher Präzision riet dieser Scott, seine Expedition vor August 1914 zu beenden!
    Vor diesem Hintergrund war an Scotts Antarktis-Odyssee vieles beruhigend. Es war tapfer und verwegen, sich auf einen unbekannten Kontinent vorzuwagen, wo britische Männer beweisen würden, dass die alten Werte wie Mut in der Not, Heiterkeit, Ausdauer, Treue und Selbstaufopferung noch nicht ausgestorben waren. Scotts Briefe und Tagebücher wurden schon deshalb mit tiefer Rührung aufgenommen, weil sie zeigten, dass er und seine Kollegen diesen Idealen bis zum Ende treu geblieben waren. »Meine Gefährten sind unendlich vergnügt«, schrieb er, »aber wir alle stehen im Begriff, uns schwere Erfrierungen zuzuziehen, und obwohl wir ständig davon reden, Kurs zu halten, glaubte meiner Meinung nach wohl keiner von uns in seinem Innersten daran.«
    Allein schon die Sprache, in der sie abgefasst waren – Scott hatte beachtliches literarisches Talent –, musste ans Herz einer Nation rühren, die dabei war, ihr Vertrauen in sich selbst zu verlieren. »Hätten wir überlebt, hätte ich eine Geschichte zu erzählen gehabt ... die das Herz jedes Engländers gerührt hätte.« Der Bericht über Rittmeister Oates, der trotz der Qualen seiner Erfrierungen in den Schneesturm hinaustaumelte, um seine Freunde zu retten, und dazu den lapidaren Kommentar lieferte, er werde vielleicht »für einige Zeit« verschwinden, hätte direkt aus einem Jungenbuch stammen können. Hier präsentierte sich der Inbegriff des englischen Offiziers und Gentleman, der ohne Aufhebens seine Pflicht tut.
    Abgesehen vom Heldentum gab es auch das menschliche Interesse. Mit Hilfe von Scotts Tagebüchern konnte die Öffentlichkeit, damals wie heute, bewegende Ereignisse in allen Einzelheiten so miterleben, wie sie sich zutrugen. Die Leser konnten die schreckliche Enttäuschung und die psychische Wirkung mit ihm teilen, den Pol zwar zu erreichen, aber dann feststellen zu müssen, dass Amundsen ihm zuvorgekommen war; die Frustration über das widrige Wetter, das die Gruppe daran hinderte, sich in Sicherheit zu bringen; der Schock angesichts des Kräfteverlusts des wohl robustesten Mitglieds der Gruppe, ihres ersten Toten, Unteroffizier Edgar Evans; die Bestürzung, als sie herausfanden, dass einige der lebensnotwendigen und sorgfältig gelagerten Treibstoffvorräte verdunstet waren; die Qualen, die ihnen nagender Hunger und erfrorene Glieder bereiteten; die schmerzliche Verschlechterung des Zustands von Rittmeister Oates; das quälende Wissen, dass sie mit ihrem letzten Camp nur 20 Kilometer von einem großen Lager mit Lebensmittel- und Brennstoffvorräten entfernt waren, dieses aber wegen heftiger Schneestürme nicht
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