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Immortalis

Immortalis

Titel: Immortalis
Autoren: Raymond Khoury
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teils aus Steinen erbaut und mit Stroh gedeckt, wie die Häuser in dem jesidischen Dorf. Hinter der kleinen Ansiedlung sah sie abgeerntete Felder und vor dem Winter gemähte Wiesen, die bis zum Fuße der zerklüfteten Berge ringsum reichten.
    Sie verließ das Zimmer und wanderte durch das Haus, aber sie fand niemanden. Durch die Küche gelangte sie ins Freie. Es war überraschend warm – ein spürbarer Kontrast zur nächtlichen Kälte auf dem Berg –, und es war nichts zu hören als das leise Rascheln des Windes in den Ästen der Pistazienbäume und das Trillern und Zwitschern kleiner Vögel. Die friedvolle Ruhe war ein krasser Gegensatz zum Chaos des Tages und der Nacht zuvor.
    Sie schlang sich die Arme um den Oberkörper und spazierte einen schmalen Weg hinunter, vorbei an zwei kleinen Häusern und einer Scheune. Die Atmosphäre wirkte auf eine Weise beruhigend. Sie erinnerte sie an eine kleine Amish-Gemeinde in ihrer wohlgeordneten, vorbehaltlosen Einfachheit und Abgeschiedenheit. Sie begegnete einer Familie – einem Elternpaar mit zwei Söhnen von zwölf, dreizehn Jahren –, die Holz von einem Pferdekarren abluden. Sie lächelten ihr höflich zu und gingen weiter ihrer Arbeit nach. Ein Stück den Weg entlang kamen ihr zwei Frauen entgegen, die ein mit einem Korb voller Brot beladenes Maultier am Zügel führten. Sie grüßten mit freundlichem Blicken und zurückhaltendem Kopfnicken, ohne stehenzubleiben.
    Mia spürte, wie die heitere Ruhe und die frische Gebirgsluft ihre Lebensgeister weckte. Leise Stimmen wehten von rechts herüber, und am Fuße einer kleinen Anhöhe sah sie ein paar Leute. Sie erkannte den mochtar und das alte Ehepaar, das sie beherbergt hatte, und eine Woge der Erleichterung durchströmte sie, als sie sah, dass Evelyn und Webster bei ihnen standen.
    «Mom?», rief sie. «Webster?» Sie brachte es noch nicht über sich, ihn als ihren Dad zu sehen, aber sie würde es sicher noch lernen.
    Sie drehten sich um und winkten ihr strahlend zu. Sie rannte ihnen über die Wiese entgegen. Sie standen an einem kleinen Teich. Mia fiel ihrer Mutter um den Hals und umarmte dann auch Webster – vorsichtig, um nicht an seine Verletzung zu geraten.
    «Wann seid ihr gekommen?», fragte sie überglücklich.
    «Wir sind heute Morgen hergeritten», sagte Evelyn. « Kaak Sulayman» – sie deutete auf den mochtar – «war so freundlich, jemanden zum Dorf zu schicken, um uns zu holen.»
    Mia erinnerte sich, wie er mit seinem verletzten Sohn davongeritten war. «Wie geht es Salem?», fragte sie und hoffte das Beste.
    «Er wird überleben», sagte der mochtar , und seine dunklen Augen leuchteten erleichtert. «Er wird überleben», wiederholte er, als werde dieses Mantra helfen, die Sache zu besiegeln.
    Mia nickte. Die Erinnerungen an die vergangene Nacht durchbohrten ihr Herz. Als ob er es spürte, lenkte ihr Vater ihre Aufmerksamkeit auf die beiden alten Leute.
    «Das sind Munir und Arija», sagte er. «Deine Gastgeber.» Er bewegte sich langsam und vorsichtig, und als er den Arm sinken ließ, verzog er schmerzvoll das Gesicht. Evelyn nahm fürsorglich seine Hand.
    Die beiden Alten lächelten Mia liebenswürdig an.
    «Danke, dass Sie mich gestern Nacht gerettet haben», sagte Mia, und sie zuckten bescheiden die Achseln. Mia fiel auf, dass die beiden ein bisschen angespannt und unruhig wirkten, und auch bei Webster und ihrer Mom spürte sie einen Abglanz davon. Plötzlich fiel ihr ein, weshalb sie überhaupt hier waren. Aufgeregt wandte sie sich an Webster.
    «Und?», fragte sie. «Haben sie es? Hast du sie gefragt?»
    Das ganze Tal schien verheißungsvoll zu vibrieren, als Webster dem Ehepaar einen verschwörerischen Blick zuwarf und sich dann zu dem Teich umwandte.
    Ratlos folgte sie seinem Blick, dann ging ihr ein Licht auf. «Ist es das?» Sie zeigte auf den Teich.
    Webster lächelte und nickte. «Das ist es.»
    Der Teich war nicht weiter bemerkenswert – ein flacher Tümpel mit trübem Wasser. Eine dünne, kleinblättrige Pflanze wucherte in flachen Büscheln auf dem Wasserspiegel.
    Sie beugte sich vor, um sie genauer zu betrachten. «Was ist das?»
    «Es heißt Bacopa », sagte Webster. « Bacopa monniera. Man nennt es auch das Kraut der Gnade, und da fragt man sich …» Er ließ den Satz unvollendet.
    «Wir nennen es Dschalnim», fügte Munir in überraschend gutem Englisch hinzu.
    Mias Herz zog sich zusammen. Wilde Begeisterung erfüllte sie. «Und was ist mit …» Zögernd sah sie die andern an,
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