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Immer wenn er mich berührte

Immer wenn er mich berührte

Titel: Immer wenn er mich berührte
Autoren: Heinz G. Konsalik
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nicht sprechen, Janine«, sagte er leise. »Antworte mir mit den Augen, ich verstehe dich.«
    Er beugte sich ganz nahe über ihr Gesicht.
    »Hast du Schmerzen?«
    Ihre Augen bewegten sich langsam von rechts nach links, so, wie man den Kopf schüttelt. Nein …
    Er griff nach ihren Händen.
    »Kannst du das fühlen?«
    Nein, sagten die Augen.
    Er ließ ihre Hände fallen. Sie fielen wie tote Dinge auf den Boden.
    Er hob ihr linkes Bein, zog den Schuh aus, strich mit den Fingerspitzen über die Fußsohlen. Keine Reaktion. Er schlug mit einer raschen Bewegung seiner flachen Hand gegen ihr Knie. Keine Reaktion.
    Und da begriff er: sie hatte nicht nur ihre Sprache verloren, ihr ganzer Körper war gefühllos. Unendlich vorsichtig öffnete er ihre Kostümjacke, den Kragen ihrer Bluse.
    Mit einem Schlag verstand er alles, wußte er, was in diesem Haus geschehen sein mußte.
    Da lag sie, lebend und doch wie tot, und an ihrem Hals hatte sie zwei große blaurote Flecken, zwei fürchterliche Flecken, wie er sie bisher in seinem Leben nur einmal gesehen hatte – als junger Student in der Anatomie. Damals hatten sie an einer Leiche herumgeschnitten, an einer alten Frau, die in ihrer Wohnung erwürgt worden war.
    Stephan Haller wandte sich ab, weil er Angst hatte, sie könnte in seinem Gesicht lesen.
    Nein, es tat ihr nichts weh. Gar nichts. Vielleicht würde ihr nie mehr etwas weh tun.
    Er zwang sich zu einem Lächeln, zu einem breiten, zuversichtlichen Arztlächeln, mit dem er schon viele barmherzige Lügen bemäntelt hatte.
    Na ja, sagte dieses Lächeln, wenn's weiter nichts ist, das werden wir schon hinkriegen.
    Hinter ihm stand Karsch. Er hatte noch kein einziges Wort gesagt.
    Haller hob den Mantel auf und deckte Janine damit zu. Mit einer zärtlichen Bewegung strich er über ihre Haare. »Damit du mir nicht erfrierst so ganz am Schluß, nachdem alles überstanden ist. Du brauchst jetzt keine Angst mehr haben, Janine. Ich bin bei dir, es kann dir nichts mehr geschehen.«
    Seine Stimme klang beschwörend. Und dabei dachte er: Mein Gott, sie friert ja nicht. Nicht mal mit den Zähnen kann sie klappern, nicht mal eine Gänsehaut hat sie.
    Durch eine verstohlene Geste gab er Karsch zu verstehen, daß sie draußen vor dem Zimmer miteinander reden müßten.
    Kaum waren sie außer Hörweite, fragte Karsch sofort: »Was ist denn mit ihr los?«
    Haller sah auf einmal blaß und verfallen aus.
    »Sie ist vollständig gelähmt, Karsch. Ein Wunder, daß ihre Atmung noch funktioniert …«
    »Wird sie durchkommen?«
    »Ein Funken Leben«, sagte Haller, »ist noch in ihr. Ein Funken.«
    »Warum tragen wir sie nicht sofort zum Auto und bringen sie ins Krankenhaus?« unterbrach ihn Karsch.
    »Weil sie das nicht überleben würde. Bis wir sie im Auto hätten, wäre sie tot.«
    Karsch biß sich auf die Lippen. »Also keine Hoffnung?« fragte er nach einer Weile.
    »Falls es überhaupt noch eine Hoffnung gibt, dann ist es die, daß es uns gelingt, sie ohne die geringste Erschütterung in die Klinik zu bringen. Verstehen Sie? Sie darf nicht getragen oder im Auto gefahren werden. Ihr Leben hängt an einem Faden …«
    Wenn es wenigstens ein Faden wäre, dachte er. Aber es ist ja bloß ein Haar. Ein dünnes Haar.
    »Fahren Sie los, Karsch. Alarmieren Sie die Polizei, die Bundeswehr, die Amis. Sie müssen einen Hubschrauber herbringen, der sie ins Krankenhaus fliegt, das ist die einzige Möglichkeit, das ist die einzige Chance. Beeilen Sie sich, Karsch.«
    Der Detektiv nickte wortlos und stürzte hinaus.
    Stephan Haller sah auf seine Armbanduhr. Kurz vor halb zehn Uhr. Wie lange lag Janine schon da? Als das Schreckliche geschah, hatte sie da ihren Mann erkannt? Oder hatte sie bis zuletzt nicht gewußt, wer sie töten wollte?
    Er ging wieder hinein in das Jagdzimmer, legte noch eine Decke über Janine und setzte sich neben sie, ein großer, ruhiger, verläßlicher Wächter.
    »Wir werden dich jetzt wegbringen, Janine. Und bald wird alles gut sein, alles. Ich bin bei dir, ich lasse dich nie mehr allein, Janine. Du bist gerettet. «
    Zärtliche, tröstende Worte, beruhigende, zuversichtliche Worte – er fand immer neue, wiederholte sie, er redete und redete, während sie auf Karsch warteten.
    Ein Funken Leben. Es ist noch ein Funken Leben in ihr. Seine Liebe klammerte sich an diesen Funken.
    Niemals zuvor hatte er sich gewünscht, kein Arzt zu sein. Heute nacht wünschte er es sich. Heute nacht verdammte er sein Wissen, verfluchte er seine Diagnose.
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