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Immer verlasse ich dich

Immer verlasse ich dich

Titel: Immer verlasse ich dich
Autoren: Sandra Scoppettone
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zu ihnen fahren, Kip.« Die
Kinder waren seit ihrer Geburt Teil meines Lebens, und in den letzten zwölf
Jahren auch Teil von Kips Leben.
    Sie nickt zustimmend, und wir drei
lösen uns aus unserer Gruppenumarmung. Kip und ich gehen nach oben, um uns
anzuziehen. Als ich mich nach William umschaue, sehe ich, daß er
zusammengesunken auf dem Sofa sitzt, den Kopf in die Hände gestützt. Seine
Schultern zucken, er weint stumm und trocken, wie manche Männer es tun.
     
    Rick ist nach Hause gekommen, und er
und William begleiten uns. Zunächst gehen wir zu Blythe, denn sie wohnt in der
Nähe. Weil bei ihr niemand öffnet, halten wir ein Taxi an, um uns zu Sasha
bringen zu lassen. Fünf Fahrer weisen uns ab, als sie die Adresse hören. Der
sechste Fahrer erklärt sich zögernd bereit, allerdings erst, nachdem er eine
Anzahlung von zwanzig Dollar erhalten hat.
    Sasha wohnt auf der 108th Street in
einem Mietshaus. Seine Telefonnummer ist nicht im Verzeichnis aufgeführt, daher
rücken wir ohne vorherige Anmeldung an und haben keine Ahnung, ob die Polizei
schon dagewesen ist. Werden wir also die Todesboten sein oder machen wir hier
nur einen Kondolenzbesuch?
    Rick ist noch ganz verstört, weil
William knapp dem Tod entronnen ist. Megs Tod will er dadurch natürlich nicht
verharmlosen. Er fühlt ganz normal.
    Rick, der ständig mit seinem Gewicht
kämpft, befindet sich in einer Dünn-Phase und trägt einen hellblauen Pullover
und eine hellbraune Hose. Wenn er sich in einer Fett-Phase befindet, zieht er
nur Schwarz an und William nennt ihn dann den Leichenbestatter. Kleiner als
William, hat Rick ein fast engelhaftes Gesicht, einen Spalt im Kinn,
dunkelbraune Augen, braunes Haar, von Grau durchzogen. Und er hat ein
ansteckendes Lachen. Jetzt lacht jedoch niemand.
    Wir steigen aus dem Taxi. Es geht auf
elf Uhr zu. Das Viertel jagt einem Angst ein, und ich frage mich, ob das die
Wirkung eines Vorurteils ist. Die Bewohner sind überwiegend Latinos und
Afroamerikaner.
    Es ist ein außergewöhnlich warmer
Septemberabend, und die Leute sitzen draußen vor der Tür, wie im Hochsommer.
Kleine Kinder spielen auf dem Gehsteig, und ich mache mir unwillkürlich Sorgen,
weil sie um diese Zeit noch nicht im Bett sind. Wie gewöhnlich bin ich dankbar,
daß ich keine Kinder habe. Ich würde sie überbehüten, sowie meine Eltern es mit
mir gemacht haben.
    Sashas Gebäude ist zwölf Stockwerke
hoch, es hebt sich trostlos gegen den hellen, vom Mond erleuchteten Himmel ab.
Wir gehen zwischen den plötzlich verstummten Leuten auf der Treppe hindurch,
ihre verschlossenen Gesichter sind auf uns gerichtet. Vier Weiße um elf Uhr
kann für sie nur Ärger bedeuten.
    Erleichtert stelle ich fest, daß Sashas
Name neben einer Klingel steht. Er hätte umgezogen sein können, und Meg hätte
es vermutlich nicht gewußt. Meg. Der Grund, aus dem wir hier sind,
trifft mich wie ein Schlag auf den Kopf, und ich schwanke beinahe. Kip nimmt
meinen Arm, spürt meinen labilen Zustand. Ich lächle matt und drücke auf den
Klingelknopf. Wir warten. Nichts rührt sich. Ich gehe wieder zur Treppe.
»Funktionieren die Klingeln im Haus?«
    Die Antwort ist Gelächter.
    »Bitte«, sage ich, »funktionieren sie?«
    »In diesem Haus funktioniert gar nix«,
sagt eine Frau.
    »Türen sind offen, gehn Sie einfach
rein«, fügt ein junger Mann hinzu.
    »Kennt einer von Ihnen Sasha Benning?«
Er trägt den Namen seines Vaters.
    Niemand kennt ihn. Niemand sagt die
Wahrheit. Diese Leute betrachten mich und vermutlich auch Sasha als Feinde, und
sie haben nicht die Absicht, uns behilflich zu sein. Zunächst spüre ich Zorn,
dann wird mir klar, daß wir in gewisser Hinsicht, aufgrund unserer Hautfarbe,
tatsächlich der Feind sind. Wer kann es ihnen verdenken?
    Rick sagt: »Gehen wir hoch.«
    Sashas Wohnung befindet sich im elften
Stock. Als wir ins Haus gehen, wissen die anderen wohl ebenso wie ich,
instinktiv, daß der Aufzug, wenn es denn einen gibt, nicht funktionieren wird.
    Wie in einem Horrorfilm bröckelt sich
der faulige Anstrich, vielleicht von einst grüner, jetzt von einer namenlosen
Farbe, die Wände herunter wie Eiter. Gerüche, so widerlich, daß ich sie nicht
benennen kann, verursachen mir Brechreiz. Ich habe schon den Gestank
verwesender Leichen gerochen, und das hier ist ganz ähnlich.
    Im fünften Stock angelangt, beginnen wir
alle zu jammern.
    »Für solche Sachen bin ich zu alt«,
sagt William.
    »Ich bitte dich«, sage ich, »du bist
doch ein gutes Stück jünger als
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