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Immer verlasse ich dich

Immer verlasse ich dich

Titel: Immer verlasse ich dich
Autoren: Sandra Scoppettone
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ich.«
    »Wie schlimm, sie ist dreiundvierzig
und ich bin einundvierzig«, sagt Kip.
    »Und dafür habe ich gegen meine Eltern
rebelliert?« sagt Rick.
    Wir lachen, aber unsere Heiterkeit
verwandelt sich in Beklommenheit und erstirbt, als uns einfällt, warum wir hier
sind. Der Rest der Klettertour wird ohne jede Bemerkung zurückgelegt; die
Stille wird nur von einem gelegentlichen Ächzen oder Schnaufen unterbrochen.
Als wir an Türen vorbeikommen, hören wir Geräusche von drinnen: Musik,
Fernsehen, echte Stimmen.
    Schließlich, ganz erschöpft, kommen wir
in der elften an und gehen den schwach beleuchteten Flur hinunter, bis wir bei
11G anlangen. Ich klopfe. Wir warten. Ich poche heftiger. Endlich, ganz weit
weg, regt sich etwas, jemand. Vielleicht zwei Wochen später fragt eine
männliche Stimme, wer wir sind. Ich erkenne die Stimme von Sasha und antworte.
Das Schnappen und Klirren, das die Normalität in New York symbolisiert, ist zu
hören, als er aufschließt.
    Sasha steht vor uns, zerzaust und
ungekämmt. Ich habe ihn schon eine Zeitlang nicht mehr gesehen, und er sieht
schlimmer aus, als ich in Erinnerung habe. Er hat lange, lockige ungewaschene
blonde Haare. Unter seinen dunklen Augen befinden sich Schmierflecke, ähnlich
verwischtem Make-up, doch es ist seine Haut, sie sieht ungesund aus. Er ist
zwanzig, wirkt jedoch wie dreißig. Vielleicht auch vierzig. Er hat einen alten,
fleckigen grauen Trainingsanzug an. Seine Füße sind nackt und schmutzig.
    Sasha blickt mich an, als hätte er mich
noch nie gesehen, schaut sich um, registriert die anderen drei. Ich versuche
mir einzureden, daß ich ihn gerade geweckt habe, höre allerdings nicht auf
mich, weil ich ganz genau weiß, daß er stoned ist. Die beklagenswerte Aufgabe,
die ich hier zu erfüllen habe, kommt an die Oberfläche wie ein Schwimmer, der
angestrengt Luft holt. Aber möglicherweise weiß er es ja schon. Vielleicht ist
die Polizei hiergewesen.
    Sasha blinzelt schnell, sagt mit
heiserer Stimme: »Lauren.«
    »Können wir reinkommen, Sash?« frage
ich.
    »Na ja, äh...«
    »Uns ist egal, wie es aussieht«, komme
ich ihm zuvor.
    Er zuckt lustlos die Achseln, zieht die
Tür weiter auf, tritt zurück und läßt uns herein. Keiner von uns ist ein völlig
Fremder für ihn, wenn er William und Rick auch nur ein paarmal begegnet ist.
Ich frische Sashas Gedächtnis auf, wer sie sind, und sie nicken einander zu.
    Das Apartment ist ein Alptraum. Leere
Blechdosen, schmutzige Teller, zerknüllte Tüten, dreckige Kleidung bedecken
jede freie Fläche wie alte Flicken, die darauf warten, zu einer Decke
zusammengenäht zu werden. Sasha sieht sich hilflos um, kichert.
    »Entschuldigt«, sagt er. »Schiebt das
Zeug einfach auf den Boden.«
    Niemand mag sich hinsetzen, und wir
machen alle komische Geräusche hinten im Hals. Sasha dreht sich eine Zigarette
aus einem zerknitterten Päckchen Tabak, das er inmitten des Schrotts findet.
    »Ich weiß es schon, Lauren«, sagt er,
als rede er über das Ergebnis eines Baseballspiels. »Die Polizei war hier. Sie
sagten, sie sei im Laden überfallen worden und man hätte sie umgebracht.« Er
klingt sachlich, sieht allerdings leidend aus, verwundet, ohne Aussicht auf
Heilung. Wenn er und Meg auch einander entfremdet waren, ich bin sicher, er hat
sie geliebt. Ich möchte diesen Jungen in die Arme nehmen, wie ich es so oft
tat, als er noch ein Kind war. Ich wechselte seine Windeln, fütterte ihn, ging
draußen mit ihm spielen. Aber er ist kein Kind mehr, und er steht unter Drogen
und ist schmutzig, deshalb halte ich mich zurück.
    Kip sagt: »Was willst du jetzt tun,
Sasha?«
    »Tun?«
    »Möchtest du heute nacht mit zu uns
nach Hause kommen?«
    Ich bin zugleich erstaunt und entsetzt.
Das ist unglaublich großzügig von Kip, aber ich kann mir nicht vorstellen, ihn
in seinem momentanen Zustand bei uns zu haben.
    Er schüttelt den Kopf, verneint.
    Ich empfinde Erleichterung.
    William und Rick sprechen ihm ihr
Beileid aus.
    »Bist du den ganzen Abend hiergewesen?«
frage ich ihn routinemäßig.
    Er sieht mich an, schockiert. »Wieso?«
    Schuldbewußt sehe ich die anderen an,
deren Gesichter deutlich ihre Mißbilligung ausdrücken. »Nur so.«
    »Du meinst, ich habe meine
Mutter umgebracht?«
    »Nein, nein, das meine ich nicht«,
versichere ich schnell.
    »Die Schweine haben das gefragt, aber
ich hätte nicht gedacht, daß du...« Er bricht ab.
    »Hast du mit Blythe gesprochen?« frage
ich.
    »Nein.«
    »Wo ist sie denn?«
    »Zu Hause,
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